Erschienen in:
Deutschlands größtes Naturreise-Magazin
12 Seiten | Text & Fotos
Was ich auf dem Bildschirm meines Smartphones sehe, kann ich kaum fassen: Die Drohne steigt weiter über dem Fluss auf, dann über die Wipfel der Bäume. Jetzt blicke ich direkt auf immense, steile Felswände: die Tafelberge!
Vom Fluss aus sind sie kaum zu sehen, die Bäume am Uferrand verdecken den Blick. Dank der Drohne, die ich ein paar Minuten zuvor vom Boot aus startete, sehe ich nun erstmals die braunen trutzigen Mauern in ihrem ganzen Ausmaß, den ich nicht zu bemessen vermag. Die Tafelberge müssen mehrere Kilometer breit sein.
Ich starre immer noch gebannt wie ein kleines Kind auf den winzigen Schirm.
Wem beim Anblick der Tepuis, wie die Tafelberge auch genannt werden, nicht der Atem stockt, dem ist nicht mehr zu helfen. Fast einen Kilometer schießen sie aus dem endlosen Dschungel steil hervor. Oben, am Rande des Gipfelplateaus, vereinzelt Türmchen, schroffe Spalten und erodierte Felsenklumpen, in denen sich Wolken verfangen, sie umspielen scheinen.
Ich starre immer noch gebannt wie ein kleines Kind auf den winzigen Schirm, vergesse alles um mich herum. Und dann überwältigt mich dieser Gedanke: Das ist die schönste Landschaft, die ich je gesehen habe.
Blick über die faszinierende Landschaft des Canaima Nationalparks. Im Hintergrund der Ayuan Tepui.
Plötzlich piept und fiept es: die Batterie geht zur Neige. Ich teile das Ben, meinem Guide, mit. Er fragt mich: „Kannst Du die Sandbank in Deinem Display erkennen.“ Ich bejahe. „Da kannst Du landen. Wir legen da mit dem Boot an.“
Ein Glück! Kurze Zeit später höre ich das vertraute Brummen meiner Drohne, schon steht sie etwa 20 Meter über dem Boot. Ich bewege die Steuerhebel nach unten, sie soll landen. Keine Reaktion. Die Drohne schwebt weiter über uns.
Dann plötzlich ein Alarmsignarl, was ich noch nicht kenne. Das Display zeigt dunkelblaues Gewaber. Jemand ruft: „Du hast Deine Drohne im Fluss versenkt!“ Schlagartig wird mit klar: Die Drohne, die da oben schwebt, ist gar nicht meine! Zur Zeit meines Starts ließ ein Venezolaner sein Fluggerät ebenfalls in die Luft. Auf das schaue ich gerade.
Der Bootsführer und sein Helfer springen ins Wasser, tauchen meiner Drohne nach. Nach etwa einer Minute streckt der Bootsführer triumphierend meine tropfende Drohne in die Luft! Ich kann es nicht fassen. Die Drohne muss in Reparatur, aber das Wichtigste ist gerettet: die Bilder!
Binnen weniger Minuten sind wir klatschnass von der Gischt.
Hinter dem Wasserfall
Nur einen Tag zuvor begann das Venezuela-Abenteuer. Von Caracas flog ich mit ein paar Mitreisenden in einer Propellermaschine in den Canaima Nationalpark. Kurz nach der Landung staunten wir nicht schlecht über den schäumenden Wasserfall Salto Sapo.
Eine Aushöhlung hinter den tosenden Wassermassen erlaubt es, ihn von hinten zu erkunden. Binnen weniger Minuten sind wir klatschnass von der Gischt – was bei Temperaturen um dreißig Grad niemanden kümmert.
Hinter dem Wasserfall Salto Sapo.
Es folgt eine lange Bootsfahrt zu unserer ersten Hängematten-Unterkunft. Früh am nächsten Morgen geht es weiter flussaufwärts mit dem offenen Boot. Keinerlei Zivilisationsanzeichen – als wären wir die allerersten vor Ort.
Eisvögel und Aras huschen vereinzelt am Uferrand umher. Dann lasse ich die Drohne steigen – und erahne jetzt erst, wo wir sind.
Der Fluss Kerepakupai Merú, auf dem wir uns befinden, zieht sich wie eine hellblaue Ader durch ein riesiges grünes Dschungelmeer, an deren Enden die Tafelberge majestätisch emporragen. Kein Wunder, dass diese Landschaft immer wieder Kreative verzückt und inspiriert hat.
Arthur Conan Doyle, der durch Sherlock Holmes Berühmtheit erlangte, veröffentlichte 1912 den Roman ‚The Lost World“. Darin überlebte eine Dinosaurierpopulation auf den Tafelberg-Plateaus, was wiederum Steven Spielberg zu seiner Filmreise ‚Jurassic Park‘ stimulierte.
Und James Cameron, der mit Avatar den bislang erfolgreichsten Kinostreifen überhaupt realisierte, war von Venezuela so begeistert, das er viele Landschaftselemente im Heimatplaneten des Na’vi-Völkchens einbaute.
Nach dem Abendessen fallen wir müde in unsere Hängematten.
Höchster seiner Art
Endlich, ein erster Ausblick auf den Salto Angel, mit 979 Metern Höhe der höchste Wasserfall der Welt. Die bekannteste Naturattraktion des Landes trägt den Namen des amerikanischen Piloten Jimmie Angel, der ihn erstmals 1933 sichtete.
Das Boot legt am Ufer an. Dann ist es noch ein Marsch über ein paar hundert Höhenmeter bis wir von einem abschüssigen Felsen aus den Wasserfall bewundern können. Obwohl der Salto Angel jetzt in der Trockenzeit nur etwa 20% der normalen Wassermasse führt, ist hier niemand unbeeindruckt.
Kurz vor Dunkelheit setzen wir über auf die andere Flussseite. Dort spülen wir Schweiß und Sand im seichten Flusswasser ab. Nach dem Abendessen fallen wir müde in unsere Hängematten.
Die Felswände des Mount Roraima kurz vor uns.
Ein Moment, den man nicht kaufen kann
Der Tag bricht an. Ich schlüpfe aus meiner Hängematte und stapfe zum Flussufer. Kein Zivilisationsgeräusch ist zu hören, nur das Rauschen des Flusses, von Bäumen abtropfender Regen, In der Ferne krächzen Papageien.
Der Salto Angel ist gänzlich von einer dicken Wolkendecke verhüllt. Wenige Minuten später durchbrechen die ersten Sonnenstrahlen die Wolkendecke und geben den Blick auf den Salto Angel frei.
Ein türkis blitzender Blauer Morphofalter flattert vorbei. Neben mir taucht Joachim auf. Schweigend strahlen wir uns an und nehmen diesen Moment, den man für kein Geld der Welt kaufen kann, in uns auf. Es ist ein Bild für die Götter.
Vierzehn Stunden Fahrt liegen vor uns, fünfzehnmal halten wir an Checkpoints von Polizei und Militär.
On the road again
Puerto Ordaz. Der Tag beginnt um 5 Uhr früh. Der siebensitzige Geländewagen nimmt seine sieben Mitfahrer plus Gepäck auf. Da nicht alles auf dem Dach Platz hat, verteilen wir die Last auch auf den Innenraum. Der Bewegungsspielraum ist begrenzt und ich habe Gelegenheit, meine Klaustrophobiegrenzen neu auszuloten.
Schnurstracks geht es Richtung Süden, zum Ausgangspunkt der Wanderung auf den Mount Roraima, dem größten der insgesamt 115 Tafelberge. Was wir nicht ahnen: Vierzehn Stunden Fahrt liegen vor uns, fünfzehnmal halten wir an Checkpoints von Polizei und Militär. Warum so viele Checkpoints?
Viele Venezolaner verdienen sich durch den Verkauf von Benzin etwas zum Lebensunterhalt dazu.
Man sagt, die Uniformierten kommen mit einem Verdienst von weit unter 100 Dollar pro Monat nicht über die Runden. So müssen sie sich etwas ‚hinzuverdienen‘, z.B. durch Bußgelder, die sie den Haltern der maroden, kaum verkehrstüchtigen Vehikel der meisten Venezolaner aufbrummen.
Offizielle Touristengefährte wie das unsrige, mit Passierschein plus Siegel vom Ministerium, dürfen anstandslos passieren.
Wir überholen eine endlose Autoschlange, dazwischen Tische, an denen Männer Domino spielen. Ich zähle etwa 300 Fahrzeuge. Ihr Ziel: Eine Tankstelle. Wer sich hier anstellt, der wartet viele Stunden, manche bis zu fünf Tage.
Das Benzin ist von der Regierung subventioniert, sechzig Liter kosten etwa einen Dollar. Auf dem Schwarzmarkt muss niemand warten, dafür aber 25 Cents pro Liter zahlen.
Diese Route ist berüchtigt bei LKW-Fahrern.
Fahrer Isaias ist die Ruhe und Besonnenheit in Person. Er kennt die Strecke in und auswendig. „Früher sind wir hier mit 120 Sachen durchgerauscht, jetzt muss ich alle paar Hundert Meter abbremsen und vorsichtig Schlaglöcher durchfahren.
Besonders in der Regenzeit kann es heimtückisch werden: Die Schlaglöcher laufen voll Wasser und sind dann nicht mehr zu erkennen.“
Es wird langsam dunkel, die Straße steigt an, wird kurviger. „Jetzt wird’s interessant.“ verrät Isaias mit einem leicht nervösen Unterton und wirft ein frisches Kaugummi ein.
Ein paar Minuten später erscheinen im Scheinwerferlicht verrostete und verbeulte See-Container rechts und links der Straße. Diese Route ist berüchtigt bei LKW-Fahrern. Viele haben hier, im wahrsten Sinne des Wortes, die Kurve nicht gekriegt.
Kinder des Dorfes Paraltepuy. Im Hintergrund die beiden Tepuis: Links Kukenán, rechts Roraima.
Mittlerweile ist es stockfinster, wir durchqueren die Gran Sabana, übersetzt große Steppe, eine riesige Hochebene. Keine Beleuchtung weit und breit. Wir sind in der vierzehnten Stunde unterwegs. Dann, endlich, Lichter am Horizont: Unser Ziel San Francisco de Yuruani rückt näher.
Zwanzig Minuten später laben wir sieben uns an der Mahlzeit unserer Gastgeberin Magda. Sie hat Reis, Fleisch und Gemüse gekocht. Zum Würzen wird eine lokale Spezialität gereicht: eingelegte Ameisen-Hinterleiber.
Felsbrocken rumsen an den Unterboden des Jeeps.
Auf zum Tafelberg
Am nächsten Morgen setzen wir die Fahrt fort: zwanzig Kilometer Offroad-Piste zum letzten Dorf vor den Tafelbergen: Paraltepuy.
Auf dem Weg dorthin übersäen flache Termitenhügel die Landschaft. Riesen-Heuschrecken kauern an langen Grashalmen. Wenn sie fliegen, blitzen ihre feuerroten Flügelunterseiten hervor. Felsbrocken rumsen an den Unterboden des Jeeps.
Isaias Gesicht bleibt ruhig. Der Weg ist teilweise so steil und rutschig, dass alle bis auf Isaias aussteigen müssen, damit der Jeep den Weg bewältigen kann.
In Paraltepuy angekommen, bietet sich uns der erste Ausblick auf den Mount Roraima. Er scheint zum Greifen nah. Doch es wird noch über zwei Tage Marsch brauchen, bis wir seine steilen Felswände erreichen.
Eine Riesen-Heuschrecke auf dem Weg zum Ausgangspunkt der Wanderung zum Mount Roraima.
Vogelkundler und Guide Leo Zamora weist uns in das Gelände ein. Er zeigt auf den etwas näher liegenden Tafelberg zur Linken: „Das ist der Kukenán-Tepui, auch Matawi genannt.“, sagt er, „Matawi heißt in der lokalen Sprache Kamaracoto: Du wirst sterben.“
Er dreht den Kopf und starrt uns todernst an. Dann bricht er in Lachen aus: „Haha! Keine Sorge, das wird nicht passieren.“
Mein Gepäck teile ich auf mehrere Drybags auf. Diese verteilt mein Träger Walter in seinen traditionellen Guayáre, einen offenen, handgemachten Bastkorb, der steinalt sein muss. Auch die anderen drei Träger aus dem Dorf verwenden alle einen Guayáre.
14 km Marsch stehen auf dem Plan. Der Pfad ist einfach, flach, nicht zu verfehlen. Jeder läuft in seinem Tempo, einfach immer weiter auf den Roraima zu. Der scheint jedoch kaum näher zu kommen.
Unser Lunch nehmen wir erst gegen 17 Uhr zu uns. Guides und Träger machen etwas Druck, sie wollen noch vor Dunkelheit im Nachtlager ankommen.
Die Strömung ist vereinzelt sehr stark, jeder Schritt wird überlegt gesetzt.
Die Sonne geht unter und wir durchqueren den ersten Fluss. Das Wasser geht uns bis zu den Knien. Nur Minuten dahinter der zweite Fluss, breiter, lauter, mächtiger.
Die Träger suchen nach einer geeigneten Stelle zum Durchqueren, etwas Nervosität steht ihnen im Gesicht. Mein Träger Walter gibt mir die Anweisung, meinen Fotogürtel abzuschnallen und auf meinen Schultern zu tragen – ansonsten würde alles nass werden.
Die Socken solle ich anlassen, auf den glatten Steinen bieten sie mehr Haftung als nackte Füße.
Mittlerweile ist es dunkel. Die Strömung ist vereinzelt sehr stark, jeder Schritt wird überlegt gesetzt. Wanderstöcke bieten zusätzlichen Halt. Am anderen Ufer ist alles unterhalb unserer Bauchnabel nass. Im Zeltnachtlager, nur zwei Minuten entfernt, können wir uns trocknen.
Aufstiegstag zum Mount Roraima – Balance und Kondition sind gefordert.
Weiter bergauf
Nach einem erfrischenden Morgenbad im Fluss, den wir noch am Abend zuvor durchstiegen haben, brechen wir auf. Die Strecke steigt an.
Wir beobachten Vögel bei der Insektenjagd. Es sind Gabelschwanz-Königstyrannen, die man an ihren markanten, langen Schwanzfedern gut erkennt. Organisten und Kolibris huschen derart schnell vorbei, dass wir sie nicht näher taxieren können.
Dafür können wir in den nächsten Stunden Zwergspelzer, Graubauch-Schattenkolibris, Riefenschnabelanis und Schopfkarakaras gut ausmachen. Etwas Vorsicht ist geboten, als eine Klapperschlange den Weg kreuzt.
Das Wetter ist völlig unberechenbar.
Früher war die Gran Sabana ein Dschungel. Vieles ist abgebrannt, auch die Indios legten Feuer, um leichter Tapire und Hirsche jagen zu können.
Das Wetter ist völlig unberechenbar. Immer wieder ziehen Wolken auf und es regnet. Sobald die Wolken Blicke auf die Tafelberge freigeben, wird es märchenhaft. Das gilt auch für den Nachbar-Tepui des Roraima, den Kukenán.
Er beheimatet den mit 674 Metern zweithöchsten Wasserfall Venezuelas. Die Szenerie auf dem Gipfel des Kukenán diente einst als Inspiration für den Animationsfilm Up aus dem Jahr 2009.
Ein Trauertyrann.
In einer Pause fotografier‘ ich Jaime, einen unserer lokalen Führer und Träger. Es ist einer der seltenen Momente, in denen ich seine Erschöpfung spüren kann. Jaime trägt Crocs und Baumwollkleidung.
Sein Guayáre trägt 35 Kilogramm Fracht. Jaime ist völlig durchnässt. Kein Wort des Leidens, des Fluchens oder des Bedauerns entfährt seinem Mund. Das beeindruckt mich.
Als wir am nächsten Nachtlagerplatz ankommen, sind er und seine Kameraden schon längst da. Sie begrüßen uns mit freundlichem Lächeln und warmem Tee. Wir kräftigen uns an der Mahlzeit, die uns Koch Daniele zubereitet.
Jeder Sturz könnte als Knochenbruch enden.
Aufstiegstag
Vogelfreund Leo ist aus dem Häuschen: „44 endemische Vogelarten existieren in Venezuela, die Hälfte davon hier, rund um den Roraima. Mit etwas Glück kann ich den einen oder anderen entdecken“.
Dazu hat er eine Vogelstimmen-App auf seinem Smartphone, deren Klänge er über eine kleinen Lautsprecher abspielen und so Artgenossen anlocken kann. Es klappt! Ein Riesenolivtyrann kommt näher und reckt sein Köpfchen in Richtung Lautsprecher.
Jetzt am Aufstiegstag wird der Pfad deutlich steiler, matschiger, felsiger. Mehr Äste und Stämme versperren den Weg. Kraft, Kondition und Balance sind gefordert. Jeder Sturz könnte als Knochenbruch enden. Ein Geierfalke schwebt weit über uns.
Ein natürlicher Pool auf dem Roraima.
Endlich erreichen wir den Roraima. Es fühlt sich an, als hätten Giganten eine kolossale Stadtmauer errichtet. Dicke Tropfen fallen vom Plateau des Roraima auf uns herab. Wolken rasen über sein Rand. Weiter geht’s. Noch steiler, noch matschiger.
Dann eine Schlüsselstelle, deren Anblick bei uns Herzklopfen versuracht: Ein steiler Wegabschnitt führt direkt unter der Aufprallzone eines Wasserfalls entlang.
Der untere Teil wird durch den Wind verteilt, so dass der Wasserfall die Wirkung einer starke Regendusche hat. Leo warnt: „Seid beim Aufstiege sehr vorsichtig. Ihr könnt leicht Steine auslösen, die diejenigen hinter Euch treffen könnten.“
Geschafft! Fast jedenfalls.
Ich durchsteige die Stelle mit gegebener Aufmerksamkeit. Genau diese Orte sind es, die ich so sehr liebe: Wild, ungezähmt, schwer zu erreichen. Darin liegt ihr besonderer Zauber.
Ein Stück weiter oben drehe ich mich erneut nach der Schlüsselstelle um, jetzt kreist ein Regenbogen um den Wasserfall und zwei meiner Mitreisenden.
Wir müssen uns noch eine weitere Dreiviertelstunde abrackern, bis wir endlich nach sechs Stunden Gesamtaufstiegszeit oben sind. Geschafft! Fast jedenfalls. Unser Nachtlager haben wir noch nicht erreicht.
Wir staunen über die unebene, urzeitlich anmutende Landschaft. Es würde mich nicht wundern, wenn einer der in ‚The Lost World‘ beschriebenen Dinosaurier um die Ecke trotten würde.
Roraima: Ständig wechselt das Wolkenbild, die Sicht beträgt manchmal nur wenige Meter.
Während wir uns staunend umblicken, versucht Isaias ununterbrochen, per Funk Kontakt mit dem vorangegangenen Team aufzunehmen, welches jetzt das Nachtlager vorbereitet. Nur: wo sind die Kollegen? Isaias Funksprüche bleiben unbeantwortet.
Es bleibt uns nichts anderes übrig, als nun alle in Frage kommenden Unterschlüpfe nacheinander abzusuchen. In der folgenden Stunde steuern wir drei mögliche Lagerplätze an, jedoch ohne Erfolg. Langsam wird es dunkel, der Nebel wird dichter, die Temperatur fällt.
Endlich, ein Knacken im Funkgerät, die vertraute Stimme von Gabriel, dem Chef der Vorhut, erklingt. Zwanzig Minuten später erreichen wir das ‚Hotel‘, wie Isaias es nennt: Eine Reihe von fünf Zelten, eng an eng unter einen regenschützenden Felsvorsprung gequetscht.
80 % aller Organismen sind hier endemisch.
Eine eigene Welt
Hier, auf 2.800 Metern Höhe, haben wir Glück mit dem Sonnenwetter, es kann auch mal eine Woche durchregnen. Ideale Bedingungen zur Erkundung des Plateaus, wenngleich wir nur einen Bruchteil der über 40 Quadratkilometer großen Fläche sehen werden.
80 % aller Organismen sind hier endemisch, d. h. diese existieren nur hier auf dem Roraima, nirgendwo sonst auf der Welt. Neben vielen Blumen, Blüten und eigentümlichen Pflanzen zählt dazu auch der kleine, schwarze Roraima-Frosch, über den wir jetzt staunen.
Der endemische, winzige Roraima-Frosch: Oreophrynella quelchii.
„Kannst Du Dir vorstellen, dass wir hier auf 2 Milliarden altes Gestein schauen?“, fragt mich Leo. Ich schüttle der Kopf. Leo weiter: „Wenn die Natur eine Zeitraffer von der Entstehung des Roraima drehen würde, würden wir Menschen gar nicht sichtbar sein, so unbedeutend ist unsere Geschichte im Vergleich zu dieser Ewigkeit.“
Nachdenklich springe ich weiter, von Fels zu Fels, manche Spalten sind rabenschwarz, ich vermag mir nicht auszumalen, was passiert, wenn man dort hineinstürzt. Manchmal schrecke ich kurz hoch, wenn ich ins Wasser trete. Das Wasser ist dort so ruhig und klar, dass Pfützen nicht als solche zu erkennen sind.
Nur einen Moment später wandelt sich alles wieder in eine dichte Nebelsuppe.
Ständig wechselt das Wolkenbild, die Sicht beträgt manchmal nur wenige Meter. Dann klart es binnen weniger Augenblicke wieder voll auf und die Sonne brennt hernieder. Nur einen Moment später wandelt sich alles wieder in eine dichte Nebelsuppe.
Erholung in der Öko-Lodge
Knapp zwei Tage Autofahrt hat es gedauert, nun treffe ich in der Casa Maria Lodge von Gaby und Norbert Flauger ein. Sie trägt den Beinamen ‚Bug’s Paradise‘, Käferparadies. Eigentümer Norbert ist ein großer Käferfreund, er sammelte in Berlin viel Erfahrung in der Großkäferzucht.
Auf dem etwa 5 Hektar großen Gelände laden viele lauschige Ecken zum Verweilen ein. In einem Teil kann man 15 Aquarien bestaunen. Auch der Boden scheint lebendig: viele der Fliesen sind mit handgefertigten Tierrelieffs geschmückt.
Eine Leseecke lockt mit Hängematte. Auf ihr ruht ein Caligo, ein Schmetterling mit großem Augenfleck an den Flügelunterseite.
Ein Mann mit unzähligen Talenten und Passionen: Norbert Flauger. Hier an seinem 3D-Diaprojektor.
Im Garten kann man mit etwas Geduld Eichhörnchen, Schmetterlinge, Affen und Faultiere sichten. Große Insekten surren umher. Nein, es sind Kolibris! Hungrig huschen sie von einer Blüte zur nächsten. Erfolglos versuche ich, sie mit meiner Kamera zu erhaschen.
Im aufgeforsteten Wäldchen neben der Lodge pausiere ich in einer Hängematte. Vorher scheuche ich ein paar Frösche auf. Ein Tausendfüßler krabbelt über einen Ast. Ein Vogel gibt eine exotisch-metallischen Klang von sich. Mein Soundtrack für eine kleine Lesestunde. Ich bin im Paradies gelandet.
Ich berichte von meiner fruchtlosen Kolibri-Fotojagd.
Abends erzählt mir Norbert vom Solarhaus, das er ganz in der Nähe gebaut hat. Ich berichte von meiner fruchtlosen Kolibri-Fotojagd. Er lacht: „Warum hast Du mich nicht gefragt. Ich kenne mich aus mit Kolibris. Hab‘ ein Buch über sie geschrieben.
Auf der Terrasse des Solarhauses habe ich Trinkbehälter für die Kolibris aufgehängt. Da kannst Du sie gut fotografieren. Aber Du brauchst vier Blitze, von jeder Seite einen, und ein spezielles Netzgerät, dass die Blitze mit Strom versorgt. Hast Du das?“ Ich verneine. Probieren will ich es trotzdem.
Wir brechen am nächsten Morgen auf, erreichen das versteckte Steinhäuschen mit den Solarpaneelen und ich bestaune zehn Behälter mit Nährlösung. An denen säugen unentwegt Kolibris. Ich lege mich auf die Lauer und betätige in den nächsten Stunden etwa 1.000 Mal den Auslöser. Zwei Wochen später, Zuhause, filtere ich die gelungenen Aufnahmen heraus: es sind vier Bilder.
An dieser Nährlösung laben sich viele unterschiedliche Kolibri-Arten.
Ich bin der einzige Gast im Casa Maria, fühle mich jedoch nie einsam. Nicht nur, dass mir im offenen Esszimmer mindestens 15 Wandmasken aus aller Welt beim Dinner zuschauen, die liebenswerte Gaby sorgt sich rührend um mein Wohl und mit Norbert habe ich die perfekte Rollenaufteilung gefunden: Ich frage, er antwortet.
„Man muss in die Natur gehen, um eine Lösung zu finden.“
Aus dem Garten ruft ein Pfau. Dann weitere Vögel, die Norbert alle am Gesang erkennt und mir gleich den lateinischen Namen dazu nennt. „Etwa 140 Vogelarten wurden in unserem Garten beobachtet, über 300 in der näheren Umgebung.“, berichtet er.
Dieser Mann ist ein wandelndes Lexikon. Von Norbert lerne ich, dass manche Tiere Licht ohne Wärmeentwicklung herstellen können, ein Prinzip, was Ingenieure noch nicht vollständig verstanden haben.
Stabschrecken können extreme Gewichte stemmen, sie nutzen Hebelgesetze optimal aus, hochinteressant für Roboteringenieure. Norbert resümiert: „Man muss in die Natur gehen, um eine Lösung zu finden.“
Norbert hat nicht nur eine vorbildliche Öko-Lodge mit geschlossenem Kohlenstoffkreislauf aufgebaut, sondern auch große Waldareale wiederaufgeforstet. Daneben züchtet er Fische wie den Koi und Paku und hält in weiträumigen Ställen Gänse, Truthähne, Enten und Brahmahühner.
Ein Weißnackenkolibri (Florisuga mellivora) oder Jakobinerkolibri im Flug.
Nebelwald
Wir sind auf 1.150 Meter. Ich bestaune Stirnvogelnester, die sich in den dünnen Ästen im Wind hin und her wiegen. Der Nebelwald macht seinem Namen alle Ehre. Als schaue man ständig durch einen Softfilter.
Norbert hat sich ein 22 Hektar großes Grundstück gesichert, von dem der größte Teil aus Nebelwald besteht. Auf dem kleineren Teil am Waldrand baut er Vielerlei an: Kohl, Papayas, Shiitake-Pilze, Dill, Petersilie, Baumtomaten, Ingwer, Kurkuma, Senf, Rucola und Mexikanischen Drüsengänsefuß, auch bekannt als Fleischgewürz Epazote.
Nebelwald ist sehr fragil.
250 bis 300 Baumarten beherbergt der atemberaubende Nebelwald. Wir schreiten hinein. Unablässig tropft es von oben herab. Norbert klärt mich auf: „Man nennt das auch Horizontalniederschlag. Pflanzen sind Meister darin, Wasser abzuleiten.“
„Hier im Nebelwald besteht die Feuchtigkeit bis zu 30% aus Abtropfen. Nebelwald ist sehr fragil. Im Gegensatz zu anderen Wäldern bräuchte dieser für eine Aufforstung etwas 700 Jahre.“
Dieses mystische Habitat ist Lebensraum von Tapiren, Pumas, Ozelots, Gürteltieren, Ameisenbären, Wickelbären, Waschbären, Nagetieren, Kojoten und den Jaguarundi, auch Wieselkatze genannt.
Die Existenz vieler dieser Tierarten hat Norbert dank seiner Infrarotkamerafallen bewiesen.
Nebelwald in der Nähe von Casa Maria.
Vor über 200 Jahren gab es einen anderen Deutschen in Venezuela, der darauf hingewiesen hat, dass Wälder die Fähigkeit erhöhen, Wasser zu speichern und zur Kühlung des Klimas beitragen: Alexander von Humboldt.
Norbert Flauger hat mit unermüdlichen Engagement, Fleiß und Lausbub-Charme etwas geschaffen, was dem Geist Humboldts nachkommt.
Ich hoffe, dass es lange erhalten bleibt. Norbert blickt hoch, breitet seine Arme aus: „Das ist mein Schatz.“ Es ist mehr als das: Es ist sein Lebenswerk.
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