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6 Seiten | Text & Fotos
Eisklettern – eine Randerscheinung
Eisklettern ist im Nuuksio Nationalpark eine Randerscheinung. Und das im wahrsten Sinne, denn direkt neben dem Eishang befindet sich eine beliebte Skipiste. Zunächst tauschen Annette und ich unsere Wanderstiefel gegen fest besohlte Leihstiefel aus, von den die untergeschraubten Steigeisen nicht abfallen können. Wir legen den Harnisch an und setzen den Helm auf. Breitbeinig, damit die Steigeisenzacken sich nicht in die Hosenbeine bohren, stapfen wir ein paar Minuten zur Einstiegsstelle.
Das Sicherheitsseil wird von Kletterguide Marja mit doppeltem Karabinerhaken am Harnisch befestigt. Das Seil läuft etwa zwanzig Meter über uns durch einen Bohrhaken am Kopfende des Felsens und dann runter zu Marja, die uns sichert.
Mancher Eispickelhieb gleicht einer kleinen Eissprengung
„Schlagt den Eispickel weit über Euch ein“, weist sie uns an. „ Erst rechts ein-, zweimal, dann links. Macht einen Testzug, um zu sehen, ob das Eis hält. Dann Hochziehen. Hüfte ran an die Wand. Beine schulterbreit. Füße waagerecht ins Eis treten, nicht zu hoch, nicht zu niedrig. Halt finden. Wippend den Stand sichern. Hochschauen. Und von vorn.“
Es ist anstrengender als es sich anhört. Wir mögen den Eispickeln und Steigeisen zu Beginn nicht trauen. Schließlich hängt unser Gewicht an nur wenigen dünnen Stahlzapfen. Doch Aufstiegsspaß und Dopaminausstoß verjagen rasch die physische und psychische Anfangsbelastung. Mancher Eispickelhieb gleicht einer kleinen Eissprengung. Unsere Helme mit Visier trotzen den kleinen Eislawinen.
Annette und ich betrachten den wolkenverhangenen Himmel Helsinkis auf einem Bootsanleger.
Nachdem ich schweißgebadet wieder unten angekommen bin, möchte ich wissen, was Marja am Eisklettern fasziniert. „Ich höre auf den Klang des Eises, wenn ich einschlage. Man klettert mit den Ohren. Auch die Vibration des Eises teilt viel mit. Bei langen Eispassagen und -flächen ist dann besondere Vorsicht geboten. Eis ist für mich weicher, lebendiger, gesprächiger als Fels. Und jeden Winter zeigt es sich im neuen Gewand. Das gefällt mir.“
Reflektierende Materialien und Signalfarben erhöhen die Sichtbarkeit
Eisbrecher und Einbrecher im Hafen
„Diese Sache hat einen Haken. Und der kann Leben retten.“ Leif Rosas ist Geschäftsführer von RedRib Experience in Helsinki und zeigt Annette und mir einen Griff mit Kralle. „Stell‘ Dir vor, Du bist gerade ins Eis eingebrochen. Niemand ist da, um Dir zu helfen. Du musst Dich selbst aus dem Wasser ziehen. Ohne so einen Eishaken kann das sehr schwierig sein. Wie Ihr gleich selbst erfahren werdet.“ Annette und ich schauen uns verwundert an. Leif lächelt. Er kennt die Pointe: „Keine Sorge, vorher streift Ihr einen meiner Überlebensanzüge über.“
Zehn Minuten später wanken zwei rote Teletubbies ängstlich über die Eisdecke im Hafengebiet von Helsinki, unweit des Kaivopuisto Parks. Leif ermutigt uns, ins Wasser zu springen. „Keine Angst,“, ruft er vom Ufer aus ,“Ihr bleibt warm und trocken.“ Und tatsächlich, nach dem Eintauchen dringt kein Tropfen in den Anzug.
Der Eiseinbruch kündigt sich nicht an. In Sekundenschnelle sinkt man vollständig ins Wasser.
Solche Überlebensanzüge sind für Schiffspersonal in Notfällen eine Lebensversicherung. Das Oberflächenmaterial Neopren, ein synthetisches Gummi, isoliert und hält den Träger warm, selbst über viele Stunden in Kaltwasser. Polyurethan beschichtetes Nylon bildet eine weitere wasserabweisende Schicht und hält den Anzug strapazierfähig. Das Innenfutter besteht aus einer Lage wärmespeicherndem Schaumstoff. Reflektierende Materialien und Signalfarben erhöhen die Sichtbarkeit.
Leif berichtet: „Einmal ist mir ein Chinese im Wasser eingeschlafen. Und Dank des Anzugs überwand sich ein extrem wasserscheuer Franzose zu seinem ersten Seebad überhaupt.“ An solche hilfreichen Aspekte habe ich nicht gedacht. Schon erreicht uns der nächste Befehl von Leif: „Versucht mal, Euch da vorne aufs Eis zu ziehen.“ Gar nicht so einfach. Kaum nähere ich mich dem Eis, bricht es in großen Schollen unter mir weg. Mühselig paddele ich weiter auf die neue Eiskante zu, wuchte mich mit dem Oberkörper auf die Eisdecke.
Kracks, ich breche ein
Jetzt könnte ich eine Eiskralle gebrauchen. Meine Neopren-Finger finden keinen Halt. Nur wildes Fußpaddeln treibt mich ein wenig vorwärts. Wieder breche ich ein. Nächster Versuch. Diesmal drehe ich mich mit der Schulter ein und versuche, möglichst viele Körperpartien gleichmäßig aufs Eis zu legen. Ich rolle mich mit gestreckten Armen aufs Eis, liege auf dem Rücken. Geschafft! Kaum stehe ich, zitiert mich Leif zurück an die Eiskante. Schritt für Schritt rutsche ich zaghaft vorwärts. Dann erkenne ich, dass sich vor mir die Eisoberfläche biegt. Minimal nur. Kracks, ich breche ein. Viel überraschender und schneller als ich dachte. Ohne Vorankündigung. Ohne ansteigendes Knarren oder Knacken, wie man es aus Filmen kennt. Aber gut, jetzt kenne ich meine Sollbruchstelle.
Endlich ist es mir gelungen, aus dem Wasser wieder aufs Eis zu kriechen. Ich verteile mein Gewicht möglichst weitflächig über das Eis, um nicht wieder einzubrechen.
Ultimativ: Tauchen unter Eis
Wie bitte? Dreieinhalb Stunden? So lange soll unsere Willkommens-Sauna-Zeremonie gedauert haben? Zehn Menschen schauen sich verdutzt an, lächeln kopfschüttelnd darüber, dass sie die Zeit vergessen oder zumindest ganz anders eingeschätzt haben.
Leigh Ewin steht am Tischende und amüsiert sich über die Reaktion seiner Gäste. Der gebürtige Australier lebt seit einigen Jahren in Finnland und gilt als Experte für Atemtechniken, Freitauchen, Eisschwimmen und Kälteexposition. Sein Seminar Freitauchen unter Eis, welches vor dreieinhalb Stunden begann, ist weltweit einmalig.
Jeder der vier Sauna-Zyklen endete mit einem Eisbad im zugefrorenen See
Und begann ganz anders als vermutet. Eine finnische Schamanin begrüßte und besang die Teilnehmenden in der Sauna, peitschte Freiwillige mit Birkenzweigen. Der Birkenzweig wanderte von Hand zu Hand. Jeder war eingeladen, etwas von sich als Kind, Jugendlicher, Erwachsener und auch zum Thema Sterben preiszugeben. So eine spirituelle Übung kann, wenn man es zulässt, Geborgenheit, Öffnung, Heilung schaffen. Jeder der vier Sauna-Zyklen endete mit einem Eisbad im zugefrorenen See – um dann, sich möglichst wie reingewaschen und neugeboren fühlend, in die nächste symbolische Lebens- bzw. Saunaphase einzusteigen.
Dreieinhalb Stunden. Das ist Saunarekord bei allen, die jetzt erschöpft, hungrig, aber dopamingeschüttelt um den langen Tisch sitzen: Ein Profi-Boxer und Fitnesstrainer, ein israelischer Krypto-Investor, zwei Unternehmer aus Paris und Shanghai, ein deutscher Kältecoach, ein britischer Banker, seine zwei Söhne, eine Finnin namens Heidi sowie meine Frau Annette und ich.
Erstes kurzes Eisbad im zugefrorenen See. Viele weitere werden folgen.
Oki serviert das Essen: „Das ist Hereford Tenderloin, für viele das beliebteste Stück vom Rind, weil es das zarteste Fleisch besitzt. Genau gesagt,“ er fährt mit ausgestrecktem Zeigefinger entlang eines Filets, „ist das der Musculus Psoas Major, der große Lendenmuskel, der genau unterm Roastbeef sitzt.“
Es folgen Schüsseln mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln – überzogen mit einer Glasur aus Butter, Thymian und Honig.
„Und natürlich,“ fährt Oki fort ,“Saaristolaisleipa! Das Brot der Inselbewohner im Südwesten Finnlands. Sehr dunkel. Leicht süßlich. Eine besondere Roggenmalz-Spezialität. Lasst es Euch schmecken.“
Ich werde durch ein seltsames Geräusch geweckt
Während in der verschneiten Holzhütte namens ‚Villa Paratiisi‘, irgendwo zwei Stunden Autofahrt von Espoo entfernt, zwölf Menschen unter angeregtem Geschnatter das köstliche Abendmahl mit Preiselbeerenwasser herunterspülen, geht weit darüber, in der tiefschwarzen finnischen Nacht, ein verschleierter Halbmond auf.
Atem los
Ich werde durch ein seltsames Geräusch geweckt, blicke durch das kleine Fenster und erspähe Oki. Der steht nur wenige Meter vom Ufer entfernt auf dem zugefrorenen See und schneidet mit einer zwei Meter langen groben Eissäge große Eisplatten aus dem See. Das Ergebnis: Ein dreieckiger Pool, in dem drei Hirsche Platz hätten.
Oki sägt einen Dreieckspool frei. In nur einer Stunde friert dieser wieder zu.
Bevor das Poolrätsel gelöst wird, unterziehen wir uns Atemübungen. Schließlich sollten wir ja für das Freitauchen unter dem Eis genug Luft in der Lunge speichern und einen entspannten, kontrollierten Geisteszustand, genannt ‚Mindset‘, erwerben.
Kurserfinder und -leiter Leigh Ewin weist uns in die Wim Hof-Atmung ein, entwickelt vom holländischen ‚Ice Man‘ Wim Hof, der die gesundheitsfördernden Aspekte des Kaltduschens und Eisbadens in vielen Studien nachwies. Darüber hinaus verewigte er sich mit über zwanzig Weltrekorden im Guinness Buch, darunter der Rekord für das längste Eisbad mit 1:53 Stunden.
Angenehmer Schwindel erfasst mich
Die Wim Hof-Methode besteht aus mehreren Atemzyklen mit jeweils dreißig Atemzügen. Bequem auf dem Boden liegend, atmet man sehr tief in das Zwerchfell ein, um dann die ganz gefüllte Lunge zu entspannen bzw. einfach loszulassen – ohne die Luft aktiv aus den Lungen herauszupressen. Dadurch reichert sich der Sauerstoff im Blut an. Mit jedem Zyklus nimmt die Atemfrequenz an Geschwindigkeit zu. Am Ende eines 30er-Zyklus nimmt man einen maximal tiefen Atemzug. Dann instruiert Leigh: „Leere Lunge“, worauf die Luft die Lunge ohne aktives Zutun verlässt. Dann Luft anhalten. Entspannen. Irgendwann Countdown von zehn. Einatmen. Nächster Zyklus. Atemtempo erhöhen. Irgendwann vergesse ich die Zeit. Die Luftanhaltepausen sind herrlich. Angenehmer Schwindel erfasst mich. Bei manch anderem geht’s extremer zu: Kribbeln am ganzen Körper, halluzinatorische Farbflächen. Und wie lange haben wir am Ende die Luft angehalten? Leigh verrät: Drei Minuten. Mit leerer Lunge. Unglaublich.
Die Seminarlocation etwa zwei Autostunden von Espoo entfernt. Im Vordergrund sind die beiden Eisbadestellen zu erkennen.
In der Pause unterhalte ich mich mit Daniel, dem Kältecoach aus Berlin. Als Architekt ist er zweimal im Burnout gelandet, bevor ‚das Eis‘ und die Atmung ihn zurück ins Leben holten. „Unser Körper ist für die Kälte gemacht. Tausende von Generationen vor uns zitterten in eisigen Wintern, durchquerten Gewässer, hungerten monatelang. Unzählige solcher metabolischen Winter haben unsere Körper sehr widerstandsfähig gemacht. Heute nutzen wir das kaum noch.“ Daniel meint, die Komfortzone sei die neue Gefahrenzone. Viele moderne Krankheitsbilder seien ja auf physische Unterforderung und übermäßige Ernährung zurückzuführen.
Daniel ist kaum zu stoppen. Leigh gesellt sich dazu. Experten unter sich.
Daniel weiter: „Ein Eisbad von drei Minuten bringt niemanden um. Sondern erhöht den Ausstoß von Serotonin, Melatonin, Testosteron, Dopamin – bei manchen bis zu 300 Prozent. Die inflammatorischen Marker, also Entzündungserreger, werden nach nur drei Minuten Eisbad über fünf Tage signifikant heruntergeregelt. Das alles ist in Studien nachgewiesen.“ Daniel ist kaum zu stoppen. Leigh gesellt sich dazu. Experten unter sich. Jetzt entspinnt sich ein Fachdialog über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse: Vasodilation, Braunfettgewebe, Neuropeptid Y, Theta-Gehirnwellen, ich komme nicht mehr mit.
Nach dem Eisbad wir noch einer draufgelegt: Ausgelassenes Herumwälzen im Schnee.
Und wie ist Leigh auf ‚diese verrückte Eisgeschichte‘ gekommen, möchte ich wissen.
„Vor Jahren arbeitete ich als Praktikant in Espoo. Meine Kollegen lockten mich mit gezückten Handys in ein Eisbad. Avantouinti, übersetzt ‚Eintauchen in ein Loch im Eis‘, ist in Finnland ja seit langem eine Tradition. Nach wenigen Augenblicken flüchtete ich schreiend aus dem Wasser. Die Kollegen lachten, teilten die Videos und kommentierten: Schau mal, unser Praktikant. Er liebt Kälte!“
Die Peinlichkeit nahm im nächsten Winter wieder seinen Lauf. Doch diesmal war Leigh mit weißen Socken bewaffnet. Was zwar das Rutschen auf Eis reduzierte, aber nicht die Zeit im Eis verlängerte. Wieder Lachen. Wieder geteilte Videos.
Nach vielen Anläufen konnte er immer länger im Kaltwasser verweilen
Leigh schwor sich, dass das nicht noch einmal passieren solle. Für das nächste Mal werde er sich vorbereiten. Drei Busstopps vor seinem Büro stieg er aus, wärmte sich mit unzähligen Liegestützen auf, bevor er ins Eis sprang und sich seinen Fuß bis aufs Blut aufriss. Er gab nicht auf und nach vielen Anläufen konnte er immer länger im Kaltwasser verweilen.
Bei der nächsten Weihnachtsfeier leuchtete kein Handy, niemand lachte.
Ermutigt durch die Selbstwirksamkeit erkundete Leigh Atemtechniken, trainierte mit Wim Hof, lernte Freitauchen, experimentierte mit Meditation, Yoga, Biohacking, bis er selbst Seminare anbot. Vor zwei Jahren gipfelte das in der Idee, die für ihn intensivste und anspruchsvollste Art der Kälteerfahrung zu vermitteln: das Freitauchen unter Eis.
Sieben Minuten Summen im Eisbad. Das stimuliert den Vagusnerv, der wiederum den Herzschlag drosselt.
Ab ins Loch
Die Temperatur liegt bei knapp unter null Grad. Es ist windstill. In Badeklamotten treten wir im Gänsemarch vor das Eisloch im zugefrorenen See, zwanzig Meter von der Hütte entfernt.
Unter genauer Beobachtung und Anleitung von Leigh gleitet jeder einzeln ins Wasser. Beim ersten Eintauchen bleibt der Kopf über Wasser. Nach einer Aufwärmphase in der Sauna erfolgt das zweite Eintauchen, jetzt mit Taucherbrille. Der Kopf tunkt für ein paar Sekunden ins Wasser ein. Das dritte Eintauchen dann zusätzlich mit Schnorchel. Jeder darf sich jetzt so viel Zeit nehmen wie er möchte, um sich in Ruhe unter Wasser umzuschauen. Es geht darum, möglichst umfangreiche Unterwasser-Sinneseindrücke zu gewinnen, damit uns diese am nächsten Tag schon etwas vertraut sind.
Es gibt es keinen Führerschein, der uns den Umgang damit lehrt
Atme wie du leben willst
In der Hitze der Sauna dreht der deutsche Atem- und Kältetrainer Daniel Ruppert auf: „Wir atmen etwa 20 – 25.000 Mal am Tag. Atmung ist die mit Abstand am häufigsten genutzte, lebenserhaltende Funktion des Menschen. Ohne Essen können wir vielleicht 3 Wochen überleben, ohne Atmung nicht einmal 10 Minuten. In der Schule lernen wir nichts darüber. Es gibt es keinen Führerschein, der uns den Umgang damit lehrt.“ Während langer Auslandaufenthalte, davon Monate in einem Shaolin-Kloster, kam Daniel in Berührung mit Atemtechniken.
Gruppenfoto mit Kursleiter Leigh Ewin (vorne).
„Atme wie Du leben willst, sagte einer meiner Shaolinmeister. Du kannst dich wach atmen, ruhig atmen, warm atmen, abkühlen. Atmung ist einfach krasser Scheiß!“, lacht der Zweiundfünfzigjährige. Einer seiner Coachees, der Profiboxer Moritz, ruft herüber: „Pass‘ bloß auf, der missioniert Dich!“ Daniel nickt ruhig, schmunzelt und fährt fort: „Meist atmen wir zu viel, zu schnell. Stress entsteht fast ausschließlich durch erhöhte Atemfrequenz. Und verschwindet durch kontrollierte, ruhige Atmung. Wir brauchen nur bis fünf Atemzüge pro Minute. Acht sind leichter Stress, zwölf signifikanter Stress und alles über vierzehn Atemzüge chronischer Stress. Dass wir überhaupt atmen dürfen, verdanken wir 375 Millionen Jahre Evolution! Da muss doch was Spannendes drinstecken. Wir müssen das nur rausholen.“
Das Summen stimuliert den Vagusnerv
Kaum habe ich Daniels Wissen verdaut, raucht gleich darauf mein Kopf von Leighs wissenschaftlicher Druckbetankung: Der Einfluss von Atmung und Kälte auf Energie-, und Hormonproduktion, Blutchemie, Verdauung, Körpertemperaturregelung, lymphatisches System, Emotionsregulation und autonomes Nervensystem. Puh, ich brauch‘ jetzt dringend eine Abkühlung!
Sieben Minuten Summen
Nun kommt der Dreieckspool zum Einsatz. Oki entfernt das Eis, das sich seit heute Morgen auf Oberfläche gebildet hat. In Dreierteams steigen wir hinein, jeder in eine Ecke. Summend verharren wir sieben Minuten im Eis. Das Summen stimuliert den Vagusnerv. Der wiederum verstärkt die Kommunikation zwischen Hirn, Magen und Herz, drosselt den Herzschlag und ermöglicht so ein längeres Verweilen im Eis.
Luftaufnahme der Einstiegs- und Ausstiegsstelle.
Jetzt halt mal die Luft an
Zum Tagesabschluss verdonnert Leigh uns zu einer letzten Atemhalteübung. Die Augen sind geschlossen. Die Körper liegend oder sitzend in warme Kleidung gehüllt, so dass kein Kälteimpuls ablenken kann. Noch zwei Minuten bis zum Atemstopp. Dann Countdown. Und Luft anhalten! Nach einer Weile macht sich mein Zwerchfell bemerkbar. Der Druck nimmt zu. Bis ich es nicht mehr aushalte. Eine Minute dreißig. Heidi, die Finnin, schafft drei Minuten! Wie macht sie das? Ich empfinde das Atemanhalten als maximal unangenehm, es ist überhaupt nicht mein Ding. Erholungszeit bis zum nächsten Anhalten: Nur noch eine Minute. OK, reiß‘ Dich zusammen! Ffffffffhht! … Zwei Minuten glatt. Heidi erhöht auf 3:30.
Leigh ist begeistert: „Super gemacht, Leute!“. Er hebt den Zeigefinger: „Macht Euch keine Sorgen. Jeder von Euch hat vier bis fünf Mal so viel Luft verfügbar wie er für den Tauchgang morgen benötigt.“
Miro steht vor uns, in einem extravaganten goldenen Ganzkörpertrockenanzug
Im Steinbruch von Taivassalo
Von Miro Suonpera, der heute im zugefrorenen Steinbruchsee bei Taivassalo unsere Tauchgänge überwacht und filmt, hat Leigh uns schon erzählt. Der finnische Rekordhalter taucht mit nur einem Atemzug unter dem Eis fast 100 Meter weit. Jetzt steht er vor uns, in einem extravaganten goldenen Ganzkörpertrockenanzug, einer Spezialanfertigung seines Sponsors. Auf dem Rücken prangt sein Name in großen Lettern. Dank Miro hat der verlassene Steinbruch jetzt das Zeug für ein James Bond-Filmset.
Daniel ist bereit fürs Eintauchen und signalisiert Sicherheitstaucher Miro das OK-Zeichen.
Außer uns ist niemand hier. Am Rand des zugefrorenen Gewässers dampft ein winziges Saunazelt für maximal drei Personen, etwa 50 Meter davon entfernt auf dem See befindet sich die Tauchstelle.
Wir legen die Winterklamotten ab. Zusätzlich zum Badedress isolieren Tauchsocken, Handschuhe und Badehauben empfindliche Körperteile. Ich bin als Vierter dran. Leigh winkt mich heran, ich trete vor. Er legt mir den Sicherheitsgürtel an. Dieser ist durch ein Seil lose mit der Sicherheitsleine verbunden, die wiederum vom Einstiegs- bis zum Ausstiegsloch führt. So geht niemand verloren oder treibt ab.
Genießen konnte ich den Ausflug nicht
Ich setze mich an den Rand, meine Beine baumeln im Wasser. Eine letzte Entspannung, Fokus, OK-Zeichen für Miro und los geht’s: Ich tauche ein, ergreife die weiße Sicherheitsleine und ziehe mich mit Blick nach oben in Richtung Ausstieg, etwa einen Meter unter der Eisdecke. Nach 17 Sekunden taucht mein Kopf aus dem Wasser. Richtig genießen konnte ich den Ausflug nicht, dazu war ich viel zu sehr darauf bedacht, schnell wieder herauszukommen. Aber es gibt ja noch eine Runde.
Abschiedsgruppenfoto, nachdem jeder der zehn Teilnehmer mindestens zwei Freitauchgänge unter dem Eis absolvierte.
Beim zweiten Male lasse ich es langsamer angehen. Unterwasser lege ich ein paar Meter vor dem Ausstieg eine Pause ein. Meine Beine haben starken Auftrieb. Ich presse die Sohlen gegen das Eis und blicke lotrecht in die Tiefe. Warte. Schau‘ Dich um. Nimm es so auf. Nicht einfach für mich als Fotograf ohne Werkzeug. Ich blicke in diese fremde Welt, erfasse das Licht, welches vom Eisweiß der Oberfläche sprunghaft übergeht in das Türkis-Dunkelgrün des Wassers und sich fließend zum Grund hin verdunkelt. In meinen Ohren klickert und blubbert es. Kleine Luftblasen steigen an die Eisoberfläche und irren dort herum, als suchten sie einen Ausweg.
Kälter geht’s kaum. Besser auch nicht.
Kaum dem Wasser entstiegen, motiviert mich Leigh, gleich nochmal zu tauchen. Also auf ein drittes Mal. Keine halbe Minute später verlasse ich das Eis – und schwanke wie ein Betrunkener. „Brain Freeze,“, lacht Leigh, „Deinem Hirn fehlt Blut. Das steckt noch im Körperinnern, wo es das Herz warmhält.“ Zum Glück ist der Spuk nach ein paar Sekunden vorbei. Der Tauchgang jedoch ‑ den wird so rasch niemand vergessen. Kälter geht’s kaum. Besser auch nicht. Ab ins Saunazelt.
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