Mystische Schönheit am Pazifik

USA – Olympic Nationalpark

22. Oktober 2023
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Kategorien: Alle | Publikationen
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Es wird geschätzt, dass es im Olympic Nationalpark mehr als 100 verschiedene Moosarten gibt. Entlang des Wanderwegs 'Hall of Mosses' sind nahezu alle Bäume vollständig von dicken Moosschichten bedeckt.
Es wird geschätzt, dass es im Olympic Nationalpark mehr als 100 verschiedene Moosarten gibt. Entlang des Wanderwegs "Hall of Mosses" sind nahezu alle Bäume vollständig von dicken Moosschichten bedeckt.
22 Min.Der Olympic-Nationalpark im Nordwesten der USA beherbergt gleich drei Ökosysteme: Fast 2.500 Meter hohe Berge, die ich auf Schneeschuhen durchwanderte, zerklüftete Felsküsten, deren weite Strände und bunte Gezeitentümpel große und kleine Forscher anlocken, sowie den nördlichsten Regenwald der Welt, eine mystische Zauberwelt aus Moosen und bis zu hundert Meter hohen Bäumen.

Erschienen in:

Deutschlands größtes Naturreise-Magazin
12 Seiten | Text & Fotos

Finnriver

„Die Felder und Gewässer, die wir bewirtschaften, gehören zu den traditionellen Gebieten der Chemakum und S’Klallam. Sie und weitere indigene Völker betrieben hier Gartenbau und handelten mit den Erzeugnissen. Das Land und seine Geschichte, dieses Vermächtnis hat für uns bei Finnriver eine große Bedeutung.“

Andrew Byers ist Geschäftsführer und oberster Cider-Macher von Finnriver, einem Bio-Bauernhof mit Obstplantage, Cider-Manufaktur und Event-Location. Neben Andrew arbeiten hier im Chimacum Valley auf der nördlichen Olympic Halbinsel im Bundesstaat Washington je nach Saison 50 bis 60 Menschen auf einem Gebiet von 80 Hektar Biofeldern.

„Wir nennen es die Wiederbelebung des Apfelweins“

„Obwohl wir hier im pazifischen Nordwesten ganz schön abgelegen sind, fühlen wir uns geehrt, an der Spitze der Bio-Bewegung zu stehen. Und besonders an der, nennen wir es, Wiederbelebung des Apfelweins.“

Über zehn verschiedene Fruchtbaumarten wachsen hier. Jährlich werden 75 verschiedene Apfelsorten geerntet. Einige davon werden als Cider verarbeitet und landen in der Flasche im Verkauf oder im Fass im Tap Room, der farbenfrohen Schänke des Anwesens. Hier hat der Kenner Auswahl aus über 14 verschiedenen Apfelschaumweinen.

Vier vom Finnriver-Team in der Schänke: Maude Eisele, Mahala Duff, Andrew Byers und Kelsey Dressler.

Finnriver ist eine ‚US Certified B Corporation‘, d. h. sie erfüllen hohe Standards hinsichtlich sozialer und ökologischer Leistung, Transparenz und Verantwortlichkeit.

„Einer der Leitsätze Finnrivers lautet ‚Wiederverwendung vor Recycling‘.“ erläutert Andrew, der jetzt auf ein Blechdach mit vielen Solarpaneelen zeigt. „Vieles von dem, was Du da oben als Abdeckung siehst, stand vorher in Lagergebäuden, Ställen oder Scheunen.“

Das Gelände mit Cider Garden, Shop und Schänke wirkt auf mich wie ein liebevoll zusammengestelltes 3D-Sammelbuch aus vielen wiederverwendeten Einzelelementen und Exponaten. „Hier sind Menschen am Werk, die es ernst meinen. So viel Passion, so viel Energie.“ Dieser Gedanke durchfährt mich, bevor Andrew in den ‚Tap Room‘ einlädt: die Schänke von Finnriver.

„Seitdem wir 2004 mit Landwirtschaft begonnen haben, sind weitere Zweige am Finnriver-Familienbaum entstanden. Unsere Farm baut Bio-Äpfel und -Birnen an, verarbeitet sie zu Apfel- und Obstweinen. Die stellen wir unter meiner Aufsicht auf dem Hof selber her. Und da kannst Du gleich welche verkosten.“ grinst Andrew. Mittlerweile sind wir an der Bar angekommen.

Auf so eine starke Vision brauch ich erstmal einen Cider

Während ich die Cider-Auswahl studiere, fährt er fort: „Ja, und die Chimacum Valley Grainery produziert Bio-Getreide. Daraus stellen sie Mehl, Nudeln und Backwaren her. Und Stellar J Farms pflanzt biologisches Obst und Gemüse.“ Andrew macht eine kurze Pause, blickt aus dem Fenster. „Wir möchten, dass Finnriver ein Vorbild ist. Ein Vobild dafür, das man als kleiner Bio-Bauernhof mit Cider-Anlage finanziell überlebensfähig ist.“ Er schaut mich an. „Wenn wir wirtschaftlich überlebensfähig sind, dann sichern wir nicht nur den Lebensunterhalt unserer Familien, sondern auch Arbeitsplätze in der Region. Wir können zeigen, dass unser Modell es ermöglicht, die Gemeinschaft zu fördern. Ein Modell, das es ermöglicht, ein dreifaches Gleichgewicht zwischen Mensch, Planet und Gewinn zu erreichen.“

Auf so eine starke Vision brauch ich erstmal einen Cider. Aber welchen? Den ‚Cranberry Rosehip‘,hell, säuerlich mit einem krautigen Abgang? Oder den ‚Honey Meadow‘, einen halbsüßen, blumig-erdigen Nektar? Ich entscheide mich für den ‚Soltic Safran‘: Sanfte, bittersüße Erdigkeit, mit leichtem Anis.

Prost, Andrew. Danke, Menschen von Finnriver. Viel Erfolg Euch.

Nationalpark Ranger Bill Baccus zeigt einem Kollegen die Richtung der Wettermessstation, zu der wir gehen wollen.

Hurricane Ridge

„Nur eine Stunde von ‘Sea level to ski level’, von Meereshöhe bis auf Skihöhe in 1.600 Metern“, freut sich Bill Baccus, physikalisch-wissenschaftlicher Techniker des Olympic Nationalparks, und drückt aufs Gaspedal seines Chevys. „Jetzt siehst Du noch keinen Schnee, aber in knapp einer halben Stunde sind wir auf der Hurricane Ridge, da wird er uns ordentlich um die Ohren pfeifen“, verspricht mir Bill. Die 1958 eröffnete Hurricane Ridge Road, auf der wir uns befinden, ist auto- und menschenleer. Nur am Wochenende ist sie für Publikumsverkehr geöffnet. Ein großer Vogel überquert die Straße auf Baumwipfelhöhe. „Ein Weißkopfseeadler“, sagt Bill, „Ein Zeichen dafür, dass wir ganz in der Nähe des Pazifiks sind.“

Unser Ziel, die Hurricane Ridge, ist ein Gebirgskamm im Olympic Nationalpark, ein beliebtes Ausflugsziel zum Wandern, Skifahren oder Snowboarden und neben dem Hoh Rainforest einer der beiden meistbesuchten Orte hier.

Das Wetter in den Olympic Mountains ist unberechenbar

„Aussicht auf die Olympic Mountains können wir bei dem Wetter vergessen“, klärt mich Bill auf. „Oben haben wir dicke Wolken und stürmische Böen. Na, mal sehen, ob wir bis zur Wettermessstation durchkommen.“

Oben angekommen, verstehe ich sofort, woher die Hurricane Ridge ihren Namen hat: Unablässig pfeift hier starker Wind. Und heute transportiert er Schneeflocken. Die peitschen mir im Gegenwind ins Gesicht und fühlen sich dort an wie kleine beißende Eiswürfel. Das Wetter in den Olympic Mountains ist unberechenbar. Als Besucher sollte man hier zu jeder Jahreszeit auf Schnee gefasst sein. 10 Meter davon fallen hier jedes Jahr. Wir schnallen Schneeschuhe an und stapfen los zur Wetterstation. Dort will Bill ein Ersatzteil einbauen.

Keine gute Idee, sich ohne Augenschutz gegen den harten Wind der Hurricane Ridge zu legen: Die hohe Geschwindigkeit macht aus Schneeflocken kleine Eiskugeln.

Nach nur wenigen Minuten Marsch befinden wir uns im Windschatten der Ridge. Jetzt ist auf einmal alles still. Bill und ich blicken auf die weit unter uns liegenden Wälder. „Neben Riesen-Lebensbäumen, Gewöhnlichen Douglasien und Küsten-Tannen findest du dort vor allem westamerikanische Hemlocktannen. Hier oben wächst noch die Nootka-Scheinzypresse. Aber jetzt, durch Klimawandel und zunehmende Wärme in höheren Gefilden, wachsen hier vermehrt die vorgenannten Bäume. Und obwohl man’s jetzt nicht sieht: Wir haben weniger Schnee. Und mehr Regen.“

Bill weiß, wovon er spricht. Er arbeitet seit 35 Jahren für die Nationalparkverwaltung und wird ständig mit den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert. „An den Gletschern sieht man den Klimawandel am deutlichsten. Die Gletscher im Olympic Nationalpark haben jetzt etwa 46 % weniger Eisoberfläche als noch vor 35 Jahren, wobei die Eismasse um etwa 25 bis 30 % abgenommen hat. Beim Blue Glacier wissen wir es genau. Seit 1988 schrumpfte er um 50 Meter.“

Die Bergziegen überwinden in 20 Minuten über 450 Höhenmeter

Nicht nur der Klimawandel setzt dem Nationalpark zu. Manchmal sind es auch invasive Arten. Auf der Rückfahrt zum Besucherzentrum erzählt mir Bill eine Geschichte, die ich kaum glauben mag. „Uns machen ausgezeichnete Kletterer zu schaffen. Die überwinden in 20 Minuten über 450 Höhenmeter. Nein, keine Menschen. Bergziegen!“

Bei Begegnungen mit Bergziegen, die hier nicht heimisch sind, ist Vorsicht angesagt. Es gibt sehr wenige bestätigte Fälle, in dem Bergziegen einen Wanderer und sogar einmal eine Grizzlybärin getötet haben. Dabei sollen die spitzen Hörner der Ziege den Hals der Bärin durchbohrt haben.

Seitdem die Tiere in den 1920er-Jahren eingeführt wurden, setzen sie der Vegetation zu. Und sie scheinen vom Salz, welches sich in menschlichem Urin und Schweiß befindet, stark angezogen werden. Dieses Salz sei in der Natur sonst nicht zu finden und die Ziegen brauchen es für die Versorgung ihrer Nervenzellen. „Die führen nichts Böses im Schilde,“ erklärt Bill, „aber sie wollen sich halt holen, was sie brauchen. Das machen wir Menschen doch genauso.“

Nationalpark Ranger Bill Baccus auf dem Weg zur Wettermessstation.

Zum Schutze von Wanderern und Wäldern ließ man dann etwa 300 Schneeziegen mit Hubschraubern in den North-Cascades-Nationalpark abtransportieren. Dort sind sie heimisch und zuletzt selten geworden.

Schlechtwetterfronten, Gletscherschmelze, Ziegenärger – doch Bill scheint sich nicht entmutigen zu lassen. „Olympic ist einzigartig mit seiner Vielfalt von Ökosystemen. In einer Stunde von plus 20 auf minus 5 Grad auf dem Hurricane Ridge. Ich kann hier am selben Tag Ski fahren, mit dem Kajak auf dem Fluss paddeln und im Meer surfen. Wo gibt’s das sonst?“

Die Erfolgsgeschichte einer ökologischen Wiederherstellung

Elwha River

‘MYSTR E’ steht auf dem Nummernschild von John Gussmans weißen Van. Es steht für ‚Mister E‘, eine Abkürzung von ‚Mister Elwha‘. Unter diesem Namen ist Architekt, Dokumentarfilmer und Naturschützer John Gussman weithin bekannt, spätestens seitdem er den preisgekrönten Film „Return of the River“ über eine der größten Staudammentfernungen der USA gedreht hat.

John zaubert zwei Elektroräder aus seinem Kofferraum und schon radeln wir flussaufwärts immer in Sichtweite des Elwha Flusses. Kein Mensch weit und breit zu sehen.

„Die Geschichte meines Filmes „Die Rückkehr des Flusses“ ist eine wahre Geschichte der Hoffnung ‑ inmitten immer düsterer Umweltnachrichten“ erzählt John. „Es die Erfolgsgeschichte einer ökologischen Wiederherstellung. Und eine Einladung, über verrückte Ideen nachzudenken.“

Die Straße entlang des Sol Duc Rivers scheint von einer Mauer aus Rot-Erlen gesäumt zu sein.

Etwa 100 Jahre früher war Port Angeles im Mündungsgebiet des Elwha River eine prosperierende Küstenstadt mit Tiefwasserhafen. Das einzige, was für das Wirtschaftswachstum fehlte, war eine zuverlässige Stromquelle. Unternehmer Thomas Aldwell baute inmitten des 72 km langen Elwha Rivers gleich zwei Dämme: Glines Canyon Dam und Elwha Dam. Der von der Wasserkraft gelieferte billige Strom kurbelte in Port Angeles das Wachstum von Holzmühlen und Fabriken an.

Doch nach Jahrzehnten der Naturverschandelung und Kulturmissachtung setzten sich Klallam-Indianer und Naturschützer vehement für eine Dammentfernung ein. 1992 verabschiedete der Kongress den ‚Elwha River Ecosystem and Fisheries Restoration Act‘. Das war der Startschuss für die Restaurierung der Elwha-Wasserscheide.

Und die Biester sind wetterfest!

Mittlerweile sind John und ich am alten Campingplatz angekommen. „Der Elwha River verändert hin und wieder seinen Lauf. Dann treibt er neue Flussarme aus, so wie diesen hier“, John deutet auf den neuen Strom direkt vor uns. „Der hat die Zufahrtsstraße durchbrochen und Teile vom Campingplatz weggespült.“ Jetzt verstehe ich, warum wir fast allein sind auf weiter Flur.

Das ist ideal für Tierbeobachtungen. Auf einem Oregon-Ahornbaum erspähen wir einen türkisblauen Diademhäher, den Wappenvogel der kanadischen Provinz British Columbia.

Zwei zu den Entenvögeln zählende Gänsesäger schwimmen vorbei. Eine Grauwasseramsel sucht im Wasser nach Insekten und Fliegenlarven, wobei sie mit ihren Flügeln Schwimm- und Tauchbewegungen vollführt. „Bei den Massenwanderungen der Lachse laben sie sich gerne an deren Laich“, klärt John mich auf. „Ihr schöner Gesang kann bis zu zehn Minuten andauern, ihre Rufe kann man 1,5 Kilometer weit hören. Und die Biester sind wetterfest! Am Polarkreis hat man Grauwasseramseln bei über minus 50 Grad beobachtet.“

Keine Radweg für Ungeübte: Mit viel Geschick und Balance prescht Umweltschützer John Gussman durch große Pfützen. Ich schiebe mein Rad lieber außen herum.

Unser Weg führt uns weiter an Rot-Erlen und großen Flächen gelb leuchtenden Stinkkohls vorbei. Nach einer knappen halben Stunde Radeln stehen wir an der Stelle, wo sich 85 Jahre lang eine 64 Meter hohe Staumauer erhob.

„Du denkst vielleicht, dass es einfach ist, einen Damm zu entfernen. Aber der Staudamm musste schrittweise und mit vielen Pausen entfernt werden. Nur so konnte der Fluss das Sediment aus dem Bassin ganz sorgfältig dosiert wieder in den Fluss hineinspülen und an der Flussmündung die erodierte Küste wieder aufbauen“, lerne ich von John.

Man muss sich das mal vorstellen: Dieser Damm hat 16 Millionen Kubikmeter Sediment eingefangen. Umgerechnet entspricht das einem 3 km hohen Fußballfeld. Hätte man die Staumauer einfach weggesprengt, wären große Teile des Flusses von einer Sediment- und Schlammlawine erstickt worden. Zudem entfernten Freiwillige über Jahre hinweg invasive, also nicht einheimische Arten und verpflanzten zudem über 400.000 einheimische Pflanzen, um den ursprünglichen Bewuchs wiederherzustellen.

„Langfristig erwarten wir hier 400.000 laichende Lachse“

„Als der Damm noch stand, waren die im Elwha lebenden fünf Arten des Pazifik-Lachses, darunter Rotlachs, Königslachs und der am häufigsten vorkommende Buckellachs, von 95 % ihres historischen Lebensraums abgeschnitten. Nur wenige Monate nach der Entfernung kämpften sie sich wieder auf den Stromschnellen zu ihren ursprünglichen Laichablageplätzen. Langfristig erwarten wir hier 400.000 laichende Lachse. Ihre Nachkommen werden bis zu zwei Jahre im Fluss leben, in den Ozean wandern, und dann zum Elwha zurückkehren, um den Zyklus fortzusetzen.“

Ein Diademhäher nahe des Elwha Rivers.

Rialto Beach

Jacqueline Laverdure, Koordinator für Bildung und Öffentlichkeitsarbeit des Olympic Coast National Marine Sanctuary, kniet in türkisfarbener Jacke an einem Gezeitentümpel, umgeben von Seepocken, Seeanemonen und orangefarbenen Seesternen. Im Hintergrund erheben sich vorgelagerte Felseninseln aus den Wellen.

Beim Vorbeifahren erschienen mir die Küstenlinien des Olympic Nationalparks stets ruhig und einsam. Zudem hüllten beständiger Regen und Nebel die schroffen Felsstrände in einen dunstigen Schleier und ließen sie so noch geheimnisvoller erscheinen.

Die Gerippte Napfschnecke klammert sich an Felsen, von denen sie feuchte Algen abweidet

Jetzt, um halb acht Uhr morgens, folge ich Jaqueline in meinen festen Wanderstiefeln über Seepocken und algenübersäte Felsen. Diese gibt das Meer nur zur Ebbe frei.

Wenn das Wasser sich zurückzieht, sammelt sich hier in der sogenannte Flutzone das Meerwasser in Becken, Nischen und Spalten der Felsoberfläche. Diese Gezeitentümpel sind das Zuhause von zahlreichen farbenfrohen Pflanzen und meist wirbellosen Tieren.

In der Spritzwasserzone hingegen schlagen Wellen permanent gegen die Felsen. Dort fühlt sich die Strandschnecke mit ihrem gewundenen Gehäuse wohl. Wie auch die Gerippte Napfschnecke, die sich dort an Felsen klammert, von denen sie feuchte Algen abweiden kann.

Grüne Riesenanemonen und ein Seestern namens Pisaster ochraceus in einem Gezeitentümpel des Rialto Beach.

Wir bewegen uns vorsichtig weiter und versuchen mit jedem Schritt nicht auf die großflächig verteilten Pazifischen Seepocken, Blättrigen Entenmuscheln oder Miesmuscheln zu treten. Immer wieder machen wir Halt, um in die zahllosen Tümpel zu blicken. Mit etwas Glück entdeckt man dort neben den häufig vorkommenden Grünen Riesenanemonen, Seeanemonen und Muscheln auch mal Groppen, lila Strandkrabben, Kalifornische Taschenkrebse, Dekorateurkrabben oder Einsiedlerkrebse. Jaqueline macht mich auf ein gerade mal 2 cm langes Lebewesen aufmerksam: „Schau mal, das ist eine Meeresassel. Die versteckt sich eigentlich gerne unter Felsenkraut. Die sind sehr stabil, man hat sie schon in Tiefen von über 900 Metern gefunden.“

Der Pisaster ochraceus erreicht ein Alter von bis zu 20 Jahren

Mein persönlicher Tümpelfavorit ist aber ein Seestern namens Pisaster ochraceus. Seine fünf Arme können bis zu 25 cm lang werden und Farbigkeiten von rosa bis lila aufweisen. Während viele andere Seesterne etwa 4 Jahre alt werden, erreicht Pisaster ochraceus ein Alter von bis zu 20 Jahren.

Hoh Rainforest

Während das Ackerland im Nordosten Washingtons jährlich mit nur 51 cm Regen benetzt wird, fallen nur 65 km weiter westlich in einem dichten, tropfenden Dschungel aus Farnen und riesigen Fichten 350 bis 450 cm Niederschlag. Denn nur dort steigen vom Pazifik kommende, gesättigte Winde steile Küstenhänge hinauf. Die plötzliche Höhe kühlt die Luft ab, lässt soe kondensieren und als Schnee oder Regen auf Gipfel und Wälder fallen.

Die unzähligen, fast vollständig von Moos überzogenen Bäume in den vielen einsamen Regenwäldern des Olympic Nationalparks laden immer wieder zum Bestaunen und Verweilen ein.

Die Feuchtigkeit hat eine mystische Zauberwelt kreiert. Nahe Lake Quinault, im „Valley of the Rain Forest Giants“, dem Tal der Regenwaldriesen, führen Wanderwege zu den ‚Champions‘, den größten lebenden Exemplare ihrer Art: Nootka-Scheinzypressen, Riesen-Lebensbäume, Sitka-Fichten, Gewöhnliche Douglasien, Westamerikanische Hemlocktannen und Berg-Hemlocktannen wachsen hier in Rekordhöhen von bis zu 100 Metern. Manche von ihnen sind mehr als 1.000 Jahre alt.

Auf dem Parkplatz vom Hoh Rain Forest Visitor Center begrüßt mich Tommy Farris, Gründer und Geschäftsführer von  Olympic Hiking Co. Es regnet. Tommy öffnet seine Handfläche und blickt in den Himmel: „Jedes Jahr fällt hier dreieinhalb Meter Regen. Das macht diesen Ort zu einen der feuchtesten der USA.“

Auf nur einem Baum finden wir sechs bis sieben verschiedene Moosarten

Ich folge Tommy auf den Lehrrundpfad ‚Hall of Mosses‘. Nach nur wenigen Metern staune ich über gigantische Bäume, die von Moosen und Epiphyten überwuchert sind. Am Boden formen Farne und Sträucher eine dichte Vegetation. „Auf nur einem Baum finden wir sechs bis sieben verschiedene Moosarten. Sie leben mit den Bäumen in einer symbiotischen Lebensgemeinschaft.“ Ein weißer Meisenhäher kreuzt den Weg, dann höre ich ein Piepsen gefolgt von kurzem Gurren. Welcher Vogel ist das, Tommy? „Nein, kein Vogel“, korrigiert Tommy lächelnd, „ein Gelbes Fichtenstreifenhörnchen. Das sieht sehr putzig aus. Und warnt jetzt vor Fressfeinden. Oder grenzt sein Revier ab.“

Die Natur beflügelt die Fantasie: Tommy Farris scheint sich einem riesigen ‚Moos-Hund‘ zu nähern.

Tommy zeigt mir einen liegenden, fast vermoderten Baumstamm, aus dem drei riesige Stämme emporwachsen. „Das ist ein Ammenstamm. Wenn ein großer Baum fällt, kann er als Nährboden für neue Bäume dienen. Hemlocktannen und Sitka-Fichten können oft nicht genügend Nährstoffe aus dem Waldboden ziehen. Ein Ammenstamm bietet ihnen Mineralien, Feuchtigkeit und Wärme. Aber auch dort ist der Wettbewerb hart. Nur wenige Baumsämlinge überleben.“

Ich frage Tommy, wie er auf die Idee kam, Touranbieter zu werden. „Das war während meines Studiums in Seattle. 9 von 10 Kommilitonen, die Wirtschaftsprüfer werden wollten, waren noch nie im Olympic Nationalpark. Das hat mich neugierig gemacht. Nach nur wenigen Besuchen stand mein Entschluss fest: Hier werde ich mich beruflich engagieren.“ Und jetzt, nach vielen Jahren und Touren, wird es da nicht langweilig? Tommy lächelt. Nach einer kurze Denkpause antwortet er mir: „Der Olympic überrascht mich nicht mehr. Aber er begeistert mich immer noch.“

Der wahrscheinlich ruhigste Ort der Vereinigten Staaten

Nach ein paar Minuten des Wandelns, Lauschens und Schweigens wendet sich Tommy mir zu: „Was nur wenige wissen: Hier im Hoh Rainforest hat man im Rahmen des Projekts „One Square Inch of Silence“ den wahrscheinlich ruhigsten Ort der Vereinigten Staaten gefunden. Er ist etwa 5 km vom Visitor’s Center entfernt. Der genaue Standort ist durch einen kleinen roten Stein auf einem moosbewachsenen Baumstamm gekennzeichnet.“

Ich finde so etwas einfach wunderbar. Projektinitiator Gordon Hempton sagt dazu: Stille ist ein Teil unserer menschlichen Natur. Sie kann von den meisten Menschen nicht mehr gehört werden. Kühlschränke, Klimaanlagen und Verkehrslärm sind allgegenwärtige Umgebungsgeräusche. Sie hindern uns, natürliche Umweltklänge wahrzunehmen. Wenn wir natürlicher Stille lauschen, fühlen wir uns mit dem Land, dem Augenblick und mit uns selbst verbunden. Stille ist nicht die Abwesenheit von etwas, Stille ist die Anwesenheit von allem.

Nicht viel los auf dem Highway 101, der an der 117 km langen Küste vorbeiführt, die gerade einmal 20.000 Menschen ihre Heimat nennen.

Finale

Auf dem Rückflug checke ich meine Handyphotos. Bei einem verweile ich länger. Es ist das Foto einer Inschrift, die ich im Olympic Nationalpark Besucherzentrum festielt. Sie wird dem histotischen Chief Seattle zugeschrieben. Ihr Wortlaut: „Wenn alle Tiere weg wären, würde der Mensch an einer großen Einsamkeit des Geistes sterben, Denn was auch immer mit den Tieren passiert, wird dem Menschen bald passieren. Alle Dinge sind verbunden.“ 

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