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Deutschlands größtes Naturreise-Magazin
10 Seiten | Text & Fotos
Staffa: Geologie trifft Romantik
„Im Vergleich dazu, was sind die Kathedralen oder Paläste, die von Menschen gebaut wurden? Bloße Modelle oder Spielereien, Nachahmungen, wenn man sie mit denen der Natur vergleicht.“ So schwärmte der britische Naturforscher Joseph Banks am 13. August 1772 über seine Entdeckung eines geologischen Wunderwaldes aus Tausenden Basaltsäulen auf der unbewohnten Hebrideninsel Staffa.
251 Jahre später, im September 2023, hüpfen meine Frau Annette und ich über die sechskantigen Stäbe, die wie Orgelpfeifen aus dem Meer ragen. Wir ergreifen eine Stahlleine, die uns zur Fingalshöhle führt, einer 80 Meter tiefen, kathedralenartigen Grotte, die vollständig mit anthrazitfarbenem Basalt ausgekleidet ist.
Die Enge der Höhle verstärkt die Akustik und lässt das Wasser brüllen
‚Ein festgeschnürtes Bündel steinerner Tannen‘ nannte sie Theodor Fontane in seinem 1860 erschienenen Schottland-Reisebericht ‚Jenseits des Tweed‘. In der Höhle schlägt und schäumt das vom Wind aufgepeitschte Meerwasser. Die Gischt verwandelt die Steine in glänzende schwarze Lackflächen. Die Enge der Höhle verstärkt die Akustik und lässt das Wasser brüllen.
In der Romantik spielte die Natur als Ort der Sehnsucht, Mystik und Vertiefung eine bedeutende Rolle. Die Fingalshöhle bot schon damals von allem etwas. 1832 bugsierte William Turner seine Staffelei vor die Höhle, um ihren Eingang auf Leinwand zu verewigen. Bereits drei Jahre zuvor besuchte Felix Mendelssohn Bartholdy die Insel. „In der Fingalshöhle wurde mir sofort das Thema der Ouvertüre bewusst“, schrieb er an seine Schwester Fanny. Bis zur Uraufführung seines zehnminütigen Opus 26, der ‚Hebriden-Ouvertüre‘, sollten allerdings noch vier Jahre vergehen.
Die Fingal’s Cave ist nach dem Sagenhelden Fingal benannt, einer Figur des schottischen Schriftstellers James Macpherson.
Wir streifen durch die grün-gelblichen Graswiesen der 200 mal 600 Meter großen Insel. Vereinzelt wiegen sich magentafarbene Massliebchen im kräftigen Seewind.
Wenige Minuten später stößt unser Boot vom Wundereiland ab. Ich denke an die vielen Kunstschaffenden der vergangenen Jahrhunderte, an die Intensität ihrer Gefühle, aus denen viele von ihnen Meisterwerke schufen. Wenig habe ich mit ihnen gemein – bis auf diesen Blick vielleicht. Ein Kind winkt der Insel zu und ruft „Bye bye, Fingal’s Cave!“ Staffa liegt hinter uns.
Einmal klaute jemand vom Festland hier ein Quadbike
Lismore: Insel ohne Diebe
„Polizei haben wir nicht auf der Insel. Warum auch? Die letzte Straftat ist lange her. 1956 klaute ein Inselbewohner Werkzeug aus einem Schuppen. Aber einmal jährlich besuchen uns Polizisten vom Festland. Sie kontrollieren Autos und Waffenscheine. Ihre Fährpassage buchen sie zwei Wochen im Voraus. Das spricht sich schnell herum und gibt allen genügend Zeit…“, jetzt lacht der Inselführer Robert Smith, hebt beide Arme, winkt mit beiden Zeigefingern und sagt: „… für die Vorbereitung.“ Ein weiteres Inseloriginal stimmt ein. Dann hört man Satzfetzen wie „alte Karren verstecken“ oder „noch nie beim TÜV gewesen“. Wieder Gelächter. Robert fährt fort: „Wir passen hier gut aufeinander auf. Einmal klaute jemand vom Festland hier ein Quadbike. Der Fährkapitän erkannte das Rad, stellte den Dieb zur Rede und klärte die Sache mit seiner Crew. Der Dieb ging mit leeren Händen – und ein paar Schrammen – von Bord.“
Annette spaziert entlang der historischen, weißgetünchten Cottages auf der Insel Coll.
Robert steuert seinen Land Rover Defender über eine Geröllpiste einen sanften Hang hinunter. Unzählige solcher Hügel, auf deren fruchtbaren Kalkböden Gerste, Kartoffeln und Hafer gedeihen, prägen die Landschaft der 16 Kilometer langen und etwa 1,6 Kilometer breiten Insel. Der Name Lismore geht auf das gälische Wort „Lios Mòr“ zurück, was „großer Garten“ bedeutet. Auf den Weiden grasen Kühe und Schafe. Kleine Dörfer und verstreute Häuser schmiegen sich an die Küste, davor schaukeln Fischerboote im Rhythmus der Gezeiten.
‚Dun‘ ist auch verwandt mit dem englischen ‚Town‘ und dem deutschen ‚Zaun‘
Robert deutet auf einen verlassenen runden Steinturm, der auf einem Hügel thront. „Das ist ein Broch, eine Wohn- und Verteidigungsanlage, die zwischen 500 v. Chr. und 500 n. Chr. ohne Mörtel gebaut wurde. Diese Brochs gibt es nur hier an der Westküste Schottlands.“ Die Insel ist seite langem besiedelt. 1974 fand man eine etwa 5.500 Jahre alte polierte Steinaxt. In der Bronzezeit entstanden Cairns, meist Grabstätten aus sorgfältig aufgeschichteten Bruchsteinen oder Geröll. 14 davon sind auf Lismore erhalten.
Danach, bis ins frühe Mittelalter, errichteten lokale Stammesführer sogenannte Duns: runde Wohnstätten, Schutzburgen und Siedlungen aus Trockenmauerwerk, viele davon auf Hügeln. In Schottland wies man über 800 Duns nach, auf Lismore sind sechs gut erhaltene mit Namen bekannt. Viele Ortsnamen enthalten ‚Dun‘ oder phonetisch ähnliche Bestandteile, z.B. Edinburgh, London, Verdun und Thun in der Schweiz. ‚Dun‘ ist auch verwandt mit dem englischen ‚Town‘ und dem deutschen ‚Zaun‘.
Schäfer Arthur und sein Collie namens Misty.
Schäferstündchen
Ein schriller Pfiff. Drei Hunde treiben mit ausgestreckter Zunge eine Herde von 46 Schafen über eine hügelige, grünbraune Wiese. Dahinter weiße Schaumkronen auf türkisfarbenen Meereswellen. Schäfer Arthur Scott beobachtet das Geschehen. Dann reckt der grau gekleidete, schlanke Mittfünfziger seinen Schäferstab in die Höhe, ruft und pfeift seinen Hunden Kommandos zu. Die Herde setzt sich in Bewegung, um ein weiteres Stück Weideland abzuweiden. Für seine drei Collies Misty, Fly und Tam ist das ein großes Spiel. „Schon als junger Bursche habe ich als Schäfer im Hochland gearbeitet“, erzählt Arthur. „Ich war auf den Bergen und Hügeln in ganz Schottland unterwegs, habe Schafe geschoren, Wolle gesammelt und bei Lammgeburten geholfen.“
Collie Misty wittert die Gelegenheit, gesellt sich zu ihm und lässt sich kraulen
Noch heute beginnt sein Arbeitstag oft vor Sonnenaufgang. Arthur kontrolliert die Zäune, sorgt für frisches Wasser und zieht mit seiner Herde los, wenn der Tau noch auf dem Gras glitzert. Mit Blick auf die Tiere sagt er: „Im September befallen Parasiten immer mehr Tiere. Da muss ich bald mit einer Wurmkur ran. Wenn die Weiden weniger Nährstoffe tragen, füttere ich Heu und Mineralpellets zu.“ Arthur legt sich zum Ausruhen ins Gras. Collie Misty wittert die Gelegenheit, gesellt sich zu ihm und lässt sich kraulen. In wenigen Stunden endet Arthurs Arbeitstag. Geprägt von körperlicher Arbeit, aber auch von einer tiefen Verbundenheit mit der Natur und ihren Tieren.
Annette genießt die spektakuläre Aussicht auf den Loch Katrine vom Berg Ben A’an, einem beliebten Ausflugsziel.
Ben A’an: Gipfelblick aufs Loch
Es wird steiler. Vor etwa einer Stunde, auf dem Parkplatz an der A821, zurrten Annette und ich unsere Tagesrucksäcke fest. Auf dem Weg zum 454 Meter hohen Ben A’an passierten wir dann Eichen, Kiefern und Eschen, bestaunten Teppiche aus Moosen, Farnen und Wildblumen. Wir überquerten den Allt Inneir-Bach, sahen Libellen und flüchtende Eichhörnchen. Jetzt fordert der treppenartig ansteigende Pfad deutlich mehr Kondition.
Ein Habicht kreist am Himmel
Die Bäume lichten sich, es scheint, als habe man hier abgeholzt. In einer Verschnaufpause blicken wir uns um. Hier, in den Trossachs, auch bekannt als ‚Miniatur-Highland‘, präsentiert sich der Nationalpark als Mosaik aus sanften Tälern, Hügeln, alten Wäldern und weiten Seen. Ein Habicht kreist am Himmel. Wir setzen unseren Weg fort.
Eine halbe Stunde später erreichen wir den pyramidenförmigen Gipfel des Ben A’an, heute wolkenlos. Wir genießen eine freie 360-Grad-Sicht über das langgestreckte Loch Katrine, das kleinere südöstliche Loch Achray, den nahegelegenen 729 Meter hohen Ben Venue und den 954 Meter hohen Ben Lomond in der Ferne.
Im schottischen Hochland: Ein Rothirsch zeigt seine beeindruckenden Geweihstangen. Und vielleicht seinen Sinn für Humor.
Eine Drossel beschimpft uns. Wir sind wohl in ihr Revier eingedrungen. Der Boden ist noch feucht vom Regen. Vor dem Abstieg atmen wir tief durch. Der Duft von Alpenpflanzen, Heidekraut und Gräsern erfüllt unsere Nasen und Lungen. Das ist Natur in ihrer vollen Frische.
Nein, ein Warnschild haben wir nicht gesehen. Auch kein Verbotsschild.
Buchanan Castle: Mystik mit Moos
Nein, ein Warnschild haben wir nicht gesehen. Auch kein Verbotsschild. Annette und ich wundern uns ein bisschen, dass diese verwunschene Schlossruine so leicht zugänglich ist: Buchanan Castle, ein verfallenes Juwel inmitten der Natur. Die bis zu drei Stockwerke hohen Mauern sind vollständig erhalten.
„Die sind stabil“, erfahren wir von einem jungen, morbide gekleideten und geschminkten Pärchen, das sich gegenseitig mit Handys in Gothic-Posen ablichtet. Trotzdem sind wir vorsichtig, gehen behutsam, berühren keine tragenden Mauern und steigen keine Treppen. Das Hauptgebäude ist etwa 60 Meter lang und 30 Meter breit. Die Gebäudehöhe variiert, in den Türmen erreicht sie bis zu 20 Meter. Annette und ich erahnen den einstigen immensen Reichtum der Familie, die dieses Anwesen bewohnte.
Das Dach von Buchanan Castle wurde 1954 entfernt, seitdem verfällt das Anwesen, der wunderbar gespenstische Charme bleibt jedoch erhalten.
Das Land, auf dem die Ruine steht, gehörte seit dem 13. Jahrhundert dem Clan der Buchanans. Ihre Hauptlinie starb jedoch 1682 aus. Die Clanchefs waren hoch verschuldet und verkauften die Ländereien kurz darauf an die Familie Montrose. Buchanan Castle wurde von 1852 bis 1858 unter der Aufsicht des Architekten William Burn erbaut.
Der extravagante Landsitz im schottischen Baronialstil besticht durch Wohntürme, Zinnen, kleine Türmchen an Ecken und Wänden, Staffelgiebel und einen großen Wachturm. 1925 wurde Buchanan Castle verkauft und in ein Hotel umgewandelt. Während des Zweiten Weltkrieges diente es dem Militär als Lazarett. 1941, nach seinem Flug nach Schottland, wurde Rudolf Heß hier behandelt. 1954 wurde das Hauptdach entfernt, danach verfiel das Gebäude.
Efeu umhüllt Steine und Mauern wie ein grüner Vorhang
Der Geruch von modrigem Laub und Moos steigt uns in die Nase. Eine dicke Laubschicht bedeckt den Boden wie ein weicher Teppich. Farne wachsen zwischen den Trümmern, Efeu umhüllt Steine und Mauern wie ein grüner Vorhang. Kleine Pflanzen sprießen aus Mauerrissen. In den langen Gängen und den einst prächtigen Hallen und Sälen wachsen Birken und Eichen. Ihre Äste ragen durch zerbrochene Fenster, alte Türrahmen und zerfallene Dächer. Sperlinge, Drosseln und Fledermäuse flattern durch die Luft.
Annette und ich sind begeistert von der Mischung aus Ruine, Ruhe und Natur. Sie schafft eine einzigartige Atmosphäre, die mit etwas Phantasie eine Reise in eine märchenhafte Vergangenheit ermöglicht. Die stille Umarmung der Natur zeigt hier jedem Besucher: Alles ist vergänglich, auch die prächtigsten Bauwerke.
Blick über Tobermory, Isle of Mull.
Sicht und Weite
“Wenn Ihr das Wetter nicht mögt, wartet fünf Minuten.” grinst der bärtige Kellner im Isle of Mull Hotel & Spa. Er serviert Tobbermory-Whisky, Earl Grey-Tee und Dundee Cake, den traditionellen schottischen Früchtekuchen. Unsere Mienen erhellen sich. Sekunden zuvor blickten wir noch verdrießlich durch die großen Terrassenfenster auf endlose Regenfäden.
Wir plaudern ein wenig mit dem sehr netten Mittdreißiger. Plötzlich spüre ich aufsteigende Wärme an meinem Rücken. Ich drehe mich um und sehe Sonnenstrahlen das Himmelsgrau durchbrechen. Der Kellner deutet zur Sonne und kommentiert lächelnd: „Wie gesagt, wenn Ihr das Wetter nicht mögt…“.
Abbremsen, Grüßen, Passieren, Weiterfahren
Endlich Sonne! Das müssen wir ausnutzen, Sonnenlicht war heute Mangelware. Annette kurvt den Mietwagen entlang der Küste der Isle of Mull. Ein Schild warnt vor kreuzenden Ottern. Wenig später wackeln acht Fasane über die Straße. Sie lieben diese halboffene Landschaft mit lichten Wäldern, viel Unterwuchs und Schilf. Wir passieren eine alte ausgemusterte rote Telefonzelle, jetzt beherbergt sie einen Defibrillator. Die Straße ist schmal und fordert bei jedem selten entgegenkommenden Auto die gleiche Prozedur: Abbremsen, Grüßen, Passieren, Weiterfahren.
Majestätische Klippen und grüne Hänge an der Küste der Isle of Mull.
Ich kann William Turner, Caspar David Friedrich und die anderen Landschaftsmaler der Romantik gut verstehen. Wer lässt sich nicht von dieser dramatischen, weiten Natur inden Bann ziehen? Die Sonne tauscht sanft geschwungene Hügel in sattes Gelb und Grün. Dunkle Wolken ziehen schnell am blauen Himmel vorbei. In der Ferne schweben helle Regenvorhänge vor schwarzen Klippen und über der dunklen See.
Die Natur ist in sich gefestigt und trotzt jedem Sturm mit stoischer Gelassenheit
Wild, ungezähmt, schön. Beruhigend? Einschüchternd? Vielleicht beides. Der Wissenschaftsautor Bas Kast nennt die Natur einen Ort der Ruhe und Widerstandskraft. Die Natur ist in sich gefestigt und trotzt jedem Sturm mit stoischer Gelassenheit. Vielleicht färbt das auf uns ab, wenn wir uns in der Natur aufhalten.
Der Entdecker und Vermesser der Fingalshöhle, Joseph Banks, schrieb 1772 in seinem ‚Journal of a Voyage‘: „Wie großzügig belohnt die Natur diejenigen, die ihre wunderbaren Werke studieren.“
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