Japans ungezähmte Grenze

Hokkaidos wilde Seele aus Feuer und Eis

15. Januar 2025
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22 Min.
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Die Körperlänge eines Riesenseeadlers beträgt bis 105 Zentimeter, seine Flügelspannweite bis 2,80 Meter.
Die Körperlänge eines Riesenseeadlers beträgt bis 105 Zentimeter, seine Flügelspannweite bis 2,80 Meter.
22 Min.Diese unvergleichliche Reise führt durch Schnee-Landschaften, zu mystische Begegnungen inkl. Dorschsamen und Koffein-Nudeln. Ich lerne Komorebi und Wabi-sabi kennen, erhasche Blicke auf den größten Uhu der Welt und staune über einzigartige Schönheiten, Traditionen und Geheimnisse.

Erschienen in:

Deutschlands größtes Naturreise-Magazin
12 Seiten | Text & Fotos

„Siehst du das Komorebi?“, fragt mich der gewichtige Naturführer Dameon Takada, kurz bevor wir ein Restaurant betreten, in dem mir gleich Dorschsamen serviert werden sollten. Später würden wir die größte Eule der Welt bestaunen, und ich würde mit dem Gedanken „Was für ein Tag, was für ein Land!“ in den Schlaf sinken.

Es ist Spätnachmittag, ein leichter Wind weht, und ich blicke Dameon verwirrt an. Er erkennt mein unsichtbares Fragezeichen und zeigt auf den nahen Wald: „Dort, das schillernde Sonnenlicht, das zwischen den Blättern der Bäume hindurchscheint, das nennen wir Komorebi.“ Dieses poetische Wort ist nur der Anfang einer Reihe von Besonderheiten, mit denen Japan seine Besucher verzaubert wie kaum ein anderes Land.

Ein Gamer, der auf zwei Handys gleichzeitig spielt

Dabei fing der Tag ganz anders an. Am Morgen landete die Boeing 737 aus Tokio im wolkenverhangenen Memanbetsu auf Hokkaido. Beim Landeanflug schweifte mein Blick über die schneebedeckte, grau-weiße Landschaft, und ich dachte: „Naja, nicht gerade vielversprechend.“ Kein Wunder, hatte ich doch die letzten drei Tage in Tokio verbracht.

Dort rüttelte mich ein morgendliches Erdbeben sanft aus dem Schlaf, beeindruckte mich ein Gamer, der mit Zeige- und Mittelfinger einer Hand auf zwei Handys gleichzeitig spielte, und fesselten mich die langen, feierlichen, aber bedächtigen Hochzeitsprozessionen am Meiji-Schrein.

Die Antwort auf die Frage, wie es die Japaner schaffen, den Großraum Tokio mit seinen 37 Millionen Einwohnern derart sauber, geordnet und frei von Gestank zu halten, hatte ich gesehen und erlebt. Nur verstehen konnte ich sie nicht.

Der Fuyiama kurz nach Tagesanbruch und nur Minuten vor der Landung in Tokio.

Mit traditioneller Verbeugung und einem herzlichen „Irasshaimase“, übersetzt „Willkommen“, begrüßen unsere Guides Dameon und Ayami drei Journalistenkollegen und mich. Wir steigen in einen Kleinbus, der uns nun nach Shibetsu bringen wird.

Die Temperatur liegt weit unter dem Gefrierpunkt, und die Landschaft ist in makelloses Weiß gehüllt. Vorbei an Schneeräumfahrzeugen, deren mächtige Rohre den Schnee zu imposanten Wällen am Straßenrand auftürmen, wird mir bewusst: Das ist ein wahrhaftiger Winter.

Unter uns brodelt gewaltige geothermische Energie

Dameon schnappt sich das Busmikrofon: „Hokkaido erstreckt sich über mehr als 20 Prozent der Landfläche Japans, aber hier leben weniger als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Vielleicht spürt ihr es nicht, aber wir fahren gerade über eine der aktivsten tektonischen Zonen der Erde.“

„Links und rechts von uns erstreckt sich fruchtbare Vulkanerde, dank derer sich Hokkaido als ‚Kornkammer Japans‘ bezeichnen darf. Unter uns brodelt gewaltige geothermische Energie, die unzählige Quellen, Fumarolen und Kurbäder mit heißem Wasser speist. Und über uns erheben sich majestätisch die großen Giganten: Vulkane. Sechs davon sind hier in Hokkaido aktiv.“

Blick auf die höchste Erhebung des Shiretoku Nationalpark, eine der abgelegensten Regionen Japans: den 1.660 Meter hohen Berg Rausu-dake.

Vor uns huscht ein Fuchs über die Straße. Dameon reagiert sofort: „Oh, das ist ein Ezo-Rotfuchs. Diese Tiere sind in Hokkaido endemisch und jagen vor allem tagsüber. In den kurzen Wintertagen fressen sie fast alles: Insekten, Käfer, Beeren, manchmal auch Vögel und Aas. Dieser hier durchstreift die Schneefelder auf der Suche nach Wühlmäusen und anderen Nagetieren.

Hört er etwas unter der Schneedecke, spannt er sich an, springt in die Höhe und stürzt mit allen vier Pfoten auf das Schneedach einer Wühlmaushöhle. Wenn die Nahrung knapp wird, ernähren sie sich von toten Fischen an der Küste oder von verlorenen Handschuhen am Straßenrand. Oft assoziieren sie Straßen mit Nahrung, weshalb viele bei Verkehrsunfällen sterben.“

Gaming Cup Noodles, koffeinhaltige Nudeln für ungeduldige Zocker

Die Straße wird von Japanischen Lärchen gesäumt, die als Windschutzgürtel dienen. Wir passieren endlose Schneefelder, flankiert von Kirschbäumen, Azaleenbüschen und Japanischen Steinkiefern. Endlich halten wir an und betreten einen Supermarkt. Schätzungsweise neunzig Prozent der Produkte sind ausschließlich auf Japanisch beschriftet.

Dank Ayami kann ich ein paar davon identifizieren: Shiroi Koibito, die berühmten weißen Schokoladenkekse Hokkaidos; Ikameshi, ein traditionelles Gericht aus gekochtem Tintenfisch, oder Gaming Cup Noodles, koffeinhaltige Nudeln für ungeduldige Zocker.

Ein saisonales Luxusgut, das nur im Winter verfügbar ist: ‚Shirako‘ – Dorschsamen in heißer Brühe.

Kurze Zeit später halten wir in Shibetsu an einem Restaurant. Während ich an einem langen Tresen im Gespräch mit Dameon köstliches Sushi verspeise, wächst zu meiner Linken die Aufregung und Belustigung.

Meine Mitreisende Karyn reicht mir eine kleine Schale mit weißer, weicher Substanz, die auf einer dunklen Soße liegt. Sie bittet mich, davon zu kosten. Dann zückt sie ihr Handy, drückt auf den Aufnahmeknopf und lächelt.

„Das ist Dorschsperma!“

Ich probiere. Die Substanz zergeht mir auf der Zunge, samtig, etwas mehlig, cremig wie ein fetter Frischkäse, mit einer dezenten Fischnote. Da platzt es aus Karyn heraus: „Das ist Dorschsperma!“ Sie hat nicht ganz unrecht, es ist Shirako: Dorschsamen in heißer Brühe.

Hier gilt es als saisonales Luxusgut, das es nur im Winter gibt, wenn die Fortpflanzungsdrüsen der männlichen Dorsche am stärksten entwickelt sind. Dameon fügt hinzu: „Shirako bedeutet wörtlich ‚weiße Kinder‘. Und du hast gerade ein echtes Spitzenprodukt gegessen. Wir nennen das Gericht auch ‚den Geschmack von Hokkaido‘.“

Der Riesenfischuhu ist eine der am stärksten bedrohten Arten in Japan. Er wird von den Ainu als göttliches Wesen Kotan-kor Kamuy verehrt: Beschützer der Dörfer.

Inzwischen ist es stockdunkel. Und bitterkalt. Seit fast einer Stunde hocken wir reglos in einer Holzhütte. Unsere Blicke sind auf eine etwa 20 Meter entfernte, beleuchtete Stelle gerichtet, in der Hoffnung, dass sich dort bald ein äußerst seltener Besucher zeigt: der Riesenfischuhu.

Und tatsächlich: Lautlos gleitet ein Uhu herab, vermutlich angelockt von blutigem Fischkadaver, und landet auf dem schneebedeckten Boden. Gebannt verfolge ich jede seiner Bewegungen, unfähig, den Blick von diesem wunderschönen Geschöpf abzuwenden.

Der Uhu dreht seinen Kopf, dank seiner 14 Halswirbel – wir Menschen haben nur sieben – um beeindruckende 270 Grad. Dann taucht er seinen Schnabel in das dichte, gefleckte Gefieder und beginnt, es zu putzen.

Der Riesenfischuhu ist eine der am stärksten bedrohten Arten in Japan

Seine immense Größe, die stille Anmut seiner Bewegungen und seine durchdringenden gelben Augen – ich kann die Ainu, die indigenen Bewohner Hokkaidos, gut verstehen, dass sie diesen Uhu als Gottheit verehren. Sie nennen ihn Kotan-kor Kamuy, den Beschützer der Dörfer.

Der Uhu, der im Dunkeln sehen und erfolgreich jagen kann, verkörpert für sie einen Mittler zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt.

Dameon flüstert: „Der Riesenfischuhu ist eine der am stärksten bedrohten Arten in Japan. Wir schätzen, dass es nur noch etwa 130 Exemplare gibt. Die Abholzung der Wälder hat zu einem dramatischen Rückgang der Population geführt.“

Das Sika-Hirsche sind auch an den Küstenlinieb des Ochotskisches Meeres anzutreffen, wo sie angespülten Seetang fressen.

Die Ainu verehren die Natur und alle Wesen in ihr als göttliche Erscheinungen. Sie glauben, dass jeder Teil der Natur, von Bäumen über Tiere bis hin zu Flüssen, von einem Geist bewohnt sei. Wenn der Uhu verschwindet, verlieren die Ainu auch das, was er symbolisiert: Stärke, Weisheit, Ehrfurcht, Schutz.

Der Uhu vor uns breitet lautlos seine mächtigen Flügel aus, die eine Spannweite von bis zu 190 Zentimetern erreichen können. Sekunden später verschwindet er im Dunkel der Nacht.

Woher kommen sie? Wohin fahren sie? Wer steigt hier aus? Und vor allem: Warum?

Die Bahnstation am Ende der Welt

Es ist einer jener Orte, an denen die Welt zu enden scheint: die Kitahama-Bahnstation. Mitten im Nirgendwo, direkt am Ufer des Ochotskischen Meeres, halten hier täglich drei bis vier Züge. Unweigerlich fragt man sich: Woher kommen sie? Wohin fahren sie? Wer steigt hier aus? Und vor allem: Warum?

Die einzige menschliche Präsenz ist der Bahnhofsvorsteher, der auf dem Bahnsteig eine Pokémon-Schneeskulptur in der Größe eines Kleinwagens formt.

Ein bizarres wie belustigendes Ritual: In einem Nebengebäude der Bahnstation von Kitahama verewigten sich Tausende von Besuchern mit Visitenkarten und kleinen Grußbotschaften.

Tausende von Visitenkarten und beschriebenen Zetteln schmücken die Wände des Warteraums. Begründet wurde diese Tradition von einem ehemaligen Bahnhofsvorsteher, der hier ein Notizbuch auslegte, in das Reisende ihre Erinnerungen eintragen konnten.

In Japan ist es zudem üblich, seine Visitenkarte an symbolträchtigen oder abgelegenen Orten zu hinterlassen, als eine Art persönliche Spur oder Erinnerung.

Sie können aus 30 Metern Höhe mit bis zu 100 Stundenkilometern ins Wasser stürzen

Während ich über dieses Ritual nachsinne, steige ich auf die Aussichtsplattform direkt neben der Bahnstation. Der Blick von hier oben auf das Treibeis, die weite Bucht und die Shiretoko-Bergkette ist atemberaubend. In den offenen Stellen des blau schimmernden Treibeises tummeln sich Japankormorane und Weißbauchtölpel.

Letztere gehören zu den geschicktesten Jägern der Vogelwelt. Sie können aus 30 Metern Höhe mit bis zu 100 Stundenkilometern ins Wasser stürzen, um Fische in 10 bis 30, manchmal bis zu 50 Metern Tiefe zu jagen.

Seeadler verbringen erhebliche Zeit mit Kreisen bei der Suche nach Beute.

Warum haben Menschen das Bedürfnis, sich zu verewigen? Vielleicht werden sie an abgelegenen Orten wie diesem mit ihrer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. In solchen Momenten scheint es ratsam, der Endlichkeit zu trotzen, schnell eine Karte oder einen Zettel zu beschreiben und ihn anzupinnen.

Oder ist es das endlose Treibeis, das als Metapher für das eigene Leben dient? Treibeis ist instabil, es bewegt sich unaufhörlich und ist den Launen stärkerer Kräfte wie Wind und Meeresströmungen ausgeliefert.

Im Japanischen gibt es den Begriff Mono no aware. Er beschreibt eine tiefe Empfindung, die durch die Vergänglichkeit der Dinge hervorgerufen wird. Es ist ein Gefühl sanfter Melancholie. Und es gibt einen wunderbaren Ort, um dieses Gefühl zu erleben: Kitahama.

„König des nördlichen Himmels“

Hokkaidos Himmelsjäger

Er ist einer der majestätischsten Greifvögel der Welt und wird in Japan ehrfürchtig „König des nördlichen Himmels“ genannt: der Riesenseeadler. Im Vergleich zu den ebenfalls beeindruckenden Seeadlern sind diese Giganten leicht an ihrem massiven gelben Schnabel und den markanten weißen Schulterfedern zu erkennen.

Seeadler haben dagegen ein braunes Gefieder und sind körperlich kleiner. Beide Adlerarten verbringen viel Zeit damit, in weiten Kreisen nach Beute zu suchen. An eisfreien Küsten und Flüssen jagen sie Fische, Enten und Möwen, bevor sie wieder nach Norden ziehen.

Seeadler, die im östlichen Russland gebrütet haben, migireren zur Überwinterung nach Hokkaido. Dort jagen sie an eisfreien Küstenabschnitten und Flüssen nach Fischen, Enten und Möwen.

Etwas außerhalb der Hafenstadt Shiretoko Rausu, auf dem offenen Meer, beobachten wir etwa siebzig Adler bei ihrer spektakulären Jagd nach Fischen. Dameon erklärt: „Weltweit gibt es nur etwa 5.000 Riesenseeadler, 2.000 von ihnen kommen jeden Winter nach Hokkaido, 500 davon in diese Region.

Sie stammen aus Sachalin, der Ussuri-Region oder Kamtschatka. Manche legen Tausende von Kilometern zurück, um hierher zu gelangen. Diese langen Reisen scheinen sie fit zu halten, einige werden über 40 Jahre alt.“

Vor unseren Augen wiederholt sich der faszinierende Ablauf unzählige Male: Gleiten, Sturzflug, Fangen, Steigen. Es wird einfach nie langweilig. Die Kraft, Eleganz und Präzision dieser prächtigen Vögel ist überwältigend.

Fumarolen blubbern heißen Schlamm aus dem Erdinneren

Verborgene Wunder unter dem Eis

„Passt auf und folgt mir, ohne zu weit nach rechts oder links abzuweichen. Ich möchte nicht, dass ihr in einem Yutubo landet“, warnt uns Dameon, bevor wir mit unseren Schneeschuhen den zugefrorenen Akan-See betreten. „Yutubos sind Stellen mit dünnem Eis, die schwer zu erkennen sind. Der Dampf der heißen Quellen darunter hat das Eis geschmolzen.“

Am Akan-See merkt man schnell, dass man sich in einem geothermisch aktiven Gebiet befindet: Im Hauptort Akan-ko Onsen dampft es aus fast jedem Kanaldeckel, Fumarolen blubbern heißen Schlamm aus dem Erdinneren, und im Wald liegt Schwefelgeruch in der Luft.

Der Akan-See selbst ist ein Kratersee, eingebettet zwischen zwei aktiven Vulkanen. Er beherbergt zwölf Fischarten und 259 Süßwasseralgen, darunter einen echten Exoten: Marimo.

Blick über den Lake Akan auf den 1.499 m hohen aktiven Vulkan Meakan-dake.

Marimo-Kolonien gehören zu den seltsamsten Pflanzengemeinschaften der Erde. Nur im Akan-See wachsen sie zu Kugeln von über 15 bis 30 cm Durchmesser heran und sind damit die größten Algenkugeln der Welt.

Ihre Entstehung verdanken sie einem komplexen Zusammenspiel von Sonnenlicht, windgetriebener Strömung, geothermischer Wärme, Sedimentation sowie dem Nährstoffgehalt und der Qualität des Wassers. Bei näherer Betrachtung bestehen die Kugeln aus feinen, fadenförmigen Grünalgen, die sich durch die besonderen Einflussfaktoren des Sees zu Kugeln verknoten.

Tagsüber treiben die Kugeln an der Wasseroberfläche, nachts sinken sie auf den Grund. Dieses Auf und Ab wird durch Photosynthese gesteuert. Dabei entsteht Sauerstoff in Form von kleinen Bläschen im Algennetz. Sobald genügend Bläschen vorhanden sind, steigt die Kugel auf. Nimmt das Licht gegen Abend ab, schrumpfen die Bläschen und die Kugel sinkt zu Boden.

In Japan werden Marimo als ‚Naturschatz Japans‘ verehrt. Es heißt, wer Zuhause eine Marimo-Alge pflege, der habe einen Wunsch frei.

Der Wind pfeift erbarmungslos

Dameon betritt den zugefrorenen See und wir folgen ihm brav in seiner Spur. Der Wind pfeift erbarmungslos. Schneeflocken peitschen uns ins Gesicht und legen sich in immer dickeren Schichten auf unsere Kleidung. Endlich Winter, denke ich. Eine halbe Stunde später verlassen wir den See und kehren zum Mittagessen ein.

Köstliches Beef Tataki landet auf dem Tisch, eine zarte Textur aus Rindfleisch kombiniert mit frischem Kohl, Radieschen, Paprika, Zwiebeln und intensiven Soßenaromen. „Esst reichlich“, empfiehlt Ayami, „heute Nachmittag gehen wir für ein paar Stunden in den Wald“.

Keryn bestaunt den Frostriss eines Baumes. Diese können entstehen, wenn die Temperatur schlagartig auf etwa -25° Celsius fallen.

Symphonie des stillen Waldes

Ein schwarz-weißer Eisvogel gleitet vorbei. Der Wind rauscht wie eine leichte Meeresbrandung durch die Baumkronen. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht, ist das Knirschen unserer Schneeschuhe, die uns davor bewahren, im ein Meter tiefen Schnee zu versinken.

Der Wald um den Akan-See ist ein ruhevoller Ort, fernab jeglicher Zivilisationsgeräusche. „Schaut, da sind Spuren von Eichhörnchen, Hirschen und Füchsen. Vielleicht von heute Morgen“, diagnostiziert Dameon.

Etwa hundert Meter vor uns kreuzen Sikahirsche unseren Weg, bleiben stehen und starren uns an. „Ach ja“, seufzt Dameon, „die Hirsche sehen zwar schnuffig aus, aber ihre Zahl hat stark zugenommen. Jetzt, wo der Schnee tief ist, fressen sie vermehrt Baumrinde, junge Bäume und Setzlinge.“

„Sie äsen auch an Küsten und auf landwirtschaftlichen Flächen und richten dort Schäden an. Die Schwarze Krähenbeere und andere Pflanzenarten wurden fast ausgerottet. Um die Population zu kontrollieren, darf man sie von Oktober bis März jagen.“ 

Das ist ein Frostriss. Manche sind bis zu vier Meter lang

Ich zeige auf einen Baum mit einem langen senkrechten Riss. Dameon erklärt: „Das ist ein Frostriss. Manche sind bis zu vier Meter lang. Sie entstehen, wenn die Temperatur plötzlich auf etwa minus 20 Grad Celsius fällt.

Das Wasser im Stamm gefriert dann schnell zu Eis und dehnt sich aus. Das kann dazu führen, dass das Holz plötzlich aufbricht, oft begleitet von einem Knall, so laut wie ein Gewehrschuss.“

Starker Wind erschwert die Sicht bei unser Schneeschuhwanderung auf dem zugefrorenen Lake Akan.

Ein hackendes Geräusch lässt uns innehalten. Dameon lacht und sagt: „Das ist nur ein Schwarzspecht. Sechs Spechtarten leben hier im Wald und er ist der größte von ihnen. Sie werden bis zu fünfzig Zentimeter groß und erreichen eine Flügelspannweite von siebzig Zentimetern. Man erkennt ihn leicht an seinem pechschwarzen Körper und dem leuchtend roten Kopf.“

Für die Ainu ist auch dieser Vogel eine Gottheit. Sie glauben, der Specht habe eine Wächteraufgabe und warne durch lautes Klopfen und spezielle Rufe, wenn Bären in der Nähe sind. Zudem habe der Specht den Ainu gezeigt, dass man aus Holz etwas bauen kann.

Mit seinem Schnabel meißelt er neben runden Löchern auch rechteckige, bootsförmige Löcher ins Baumholz. In der Sprache der Ainu heißt der Schwarzspecht deshalb Ciptacikap-Kamuy, ‚Gott, der Boote schnitzt‘.

Das ist ein japanischer Kuchenbaum

Jetzt fällt mir ein riesiger umgestürzter Baumstamm ins Auge. Ayumi klärt mich auf: „Das ist ein Japanischer Kuchenbaum. Im Spätherbst, ab Ende September, verströmen seine herzförmigen Blätter einen Duft, der an Karamell, Zuckerwatte oder frisch gebackenen Kuchen erinnert. Der Grund dafür ist Maltol, das freigesetzt wird, wenn die Blätter zu Laub werden und abfallen.“

Während einer Wanderung auf Schneeschuen, ohne die wir etwa einen Meter in den Schnee eingesunken wären, entdecken wir diesen wundervollen Platz, der einlädt zum Verweilen und Bestaunen der herrlich ruhigen Natur.

Hoch über unseren Köpfen flattert ein kleiner Vogel von Ast zu Ast. Ich bemerke aufgeregte Reaktionen bei unseren japanischen Begleitern. Später erfahre ich, dass es sich um eine Hokkaido-Schwanzmeise handelte.

Diese kleinen, flauschigen Vögel sind wegen ihres schneeweißen Federkleides, ihrer runden Form, der kleinen Augen und des kurzen Schnabels ein beliebtes Motiv in der japanischen Popkultur. Sie sind als Plüschtiere, Schlüsselanhänger, Glücksbringer und Süßwarenmotive bekannt und beliebt.

Nach so vielen Eindrücken, Informationen und frischer Luft sehne ich mich am Ende des Tages nach etwas Ruhe in einer stillen Ecke eines Cafés. Während ich über die vergangenen Tage nachsinne, stoße ich bei der Lektüre eines Buches auf einen Begriff, der dies auf japanische Weise zusammenfasst: Wabi-sabi. Es bedeutet, Schönheit in der Unvollkommenheit, Vergänglichkeit und Einfachheit der Dinge zu finden und wertzuschätzen.

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