Zu Fuß vom Pazifik zum Atlantik

Panama – Schatzpfad-Expedition im Regenwald

31. Januar 2025
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Immer wieder belohnt die Natur entlang des Camino Real mit herrlichen Ausblicken auf den Fluss und in den prachtvollen Regenwald.
Immer wieder belohnt die Natur entlang des Camino Real mit herrlichen Ausblicken auf den Fluss und in den prachtvollen Regenwald.
24 Min.Der Camino Real, einst bedeutende Handelsroute zwischen Pazifik und Karibik, ist ein verborgenes Juwel im Dschungel Panamas. Auf einer viertägigen Expedition erkunde ich historische Artefakte und die faszinierende Tier- und Naturwelt im Primärregenwald des Nationalparks Chagres.

Erschienen in:

Deutschlands größtes Naturreise-Magazin
12 Seiten | Text & Fotos

Es ist eine elende Plackerei. Und jeden Augenblick wert! Meine Gedanken oszillieren zwischen Verwünschung und Verzückung. Seit acht Stunden kämpfen sich meine sieben Wandergenossen und ich durch den dichten Regenwald Panamas, angeführt vom erfahrenen Führer und Machetenvirtuosen Molinar Torribio.

Wir folgen der historischen Handelsroute Camino Real, von der, etwa 165 Jahre nach ihrer letzten wirtschaftlichen Nutzung, kaum mehr als eine vage Erinnerung übrig geblieben ist. Der Dschungel hat sich längst fast alle Kopfsteinpflaster, Begrenzungen und Markierungen einverleibt oder weggespült. Vielleicht will uns die Natur damit zeigen: Alles Menschliche ist vergänglich.

Der Pfad ist übersät mit insektendurchfressenem Laub

Jeder Schritt wird mit Bedacht gesetzt. Der Pfad ist übersät mit insektendurchfressenem Laub, widerspenstigen Schlingen und stacheligen Zweigen. Ganz vorne schlägt Molinar den Weg frei. Wir halten ein paar Meter Abstand, damit zurückschnellende Äste uns verfehlen.

Dann geht es weiter über morsche Stämme, unter umgestürzten Bäumen hindurch, an dornigen Büschen und nesseligen Gewächsen vorbei. Mein Blick bleibt immer wieder staunend an Pilzarmeen haften, die über Totholz zu marschieren scheinen. Meine Ohren folgen dem Zirpen umherschwirrender Fliegenschnäpper, meine Nase wittert süß-modrige Ausdünstungen, die aus satt strahlenden Blütenständen aufsteigen, um Insekten in ihr Verderben zu locken.

Täglich weit über acht Stunden wandern wir auf dem Camino Real in Panama – durch knöcheltiefen Matsch, steile Anhöhen herauf und herab, durch mit Macheten freigehauende Pfade und knietiefe Flüsse – das stellt höchste Anforderungen an Schuhwerk und Bekleidung. An die Physis sowieso.

Und jetzt versinken meine Wanderschuhe bis zu den Knöcheln im Matsch. Guide Alex Guevara lacht: „Bist du etwa ein Flachwurzler? Solche Bäume gibt es hier viele. Sie treiben ihre Wurzeln nur bis zum Lehmboden, also knapp unter die Morast-Schicht. Dort wachsen sie breit aus, zwanzig bis fünfzig Meter, um möglichst viele Nährstoffe aufzunehmen.“

Ich befreie mich aus der lehmigen Umklammerung und steige wenig später in den knietiefen Río Mauro, der mit herrlicher Abkühlung belohnt. Es sind immerhin dreißig Grad. Nahe einer Gumpe machen wir Rast. Ich springe so wie ich bin hinein, ich habe eh keinen trockenen Faden mehr am Körper. Es kühlt herrlich! Alex taucht den blauen Zehn-Liter-Wasserfilter in den Fluss und hängt ihn an einen Baum. Wir füllen unsere Wasserflaschen und trinken begierig.

Doch wir müssen Strecke machen, vor Einbruch der Nacht unser nächstes Lager erreichen

Erschöpfung ist allen Gesichtern abzulesen. Rasch weicht sie der Euphorie, dem Faszinosum namens primärer Regenwald, der mit seiner ganzen Intensität aus Geräusch, Nässe und Wildheit und gleichsam mit unerklärlicher Ruhe, Gleichmut und Größe in uns hineinfährt. Wir scherzen, schmausen ein paar Snacks, schnallen unsere Rucksäcke auf und erklimmen den nächsten Hügel. Wie gerne hätte ich dort unten auf dem Felsen im Fluss verweilt. Doch wir müssen Strecke machen, vor Einbruch der Nacht unser nächstes Lager erreichen.

Der Blütenstand der Eschweilera jacquelyniae, einer holzigen Pflanzenart, die nur in Panama vorkommt und durch Verlust ihres Lebensraums bedroht ist.

Kraft, Ausdauer und Balance sind gefordert bei den fortwährenden Auf- und Abstiegen über Anhöhen und Wasserscheiden. Hier kann man den Kreislauf der Natur unmittelbar am eigenen Körper erleben: Das eben aufgenommene Wasser tropft stundenlang über Stirn und Nasenspitze zurück auf den Boden des Regenwaldes.

„Welcome to the jungle“, singt Axl Rose in meinem Kopf, „We take it day by day. If you want it, you’re gonna bleed. But that’s the price you pay.” Ganz recht, Axl, alles hat seinen Preis.

Genau hier fing der Camino Real an

Vergessener Pfad im Grün

„Genau hier wurden erstmals 1519 Maultiere mit Silberbarren, Gold und anderen Konquistadoren-Raubschätzen aus Peru beladen. Genau hier, in der Altstadt von Panama City, der ersten europäischen Gründung am Pazifik, fing der Camino Real an,“ erklärt Christian Strassnig, während sein ausgestreckter Finger vom vor uns liegenden Platz in Richtung Norden wandert, „und dort, fünf Tage und neunzig Kilometer entfernt, in Portobelo an der Karibikküste war er zu Ende. Dort wurden die Schätze auf Schiffe umgeladen, die dann nach Europa segelten.“

Selten im Regenwald: ein vollständig intakter Abschnitt des historischen Camino Real.

​Christian Strassnig ist ein Besessener. Ein Österreicher, der zwanzig Jahre seines Lebens der Erforschung des Camino Reals widmete. Wie kein Zweiter kennt er Details, Historisches, Anekdoten über die historische Handelsroute: „Der Camino Real ist ein Vorgänger des Panamakanals, eine der meistgenutzten Wasserstraßen der Welt. Über 350 Jahre transportierten spanische Kolonialisten hauptsächlich Gold und Silber aus Südamerika über den Isthmus, den schmalsten Landstreifen zwischen Pazifik und Atlantik.

Mit der Fertigstellung der Eisenbahn 1855 wurde der Camino Real überflüssig. Er wucherte über und wurde vergessen. 150 Jahre lang. Erst 2008 entdeckte eine Expedition, an der ich teilnahm, die originale Route wieder. Heute bietet dieses verborgene Juwel abenteuerlustigen Wanderern wie euch eine einzigartige Reise in die Vergangenheit.“ Christians Begeisterung ist ansteckend. Und sollte sich bewahrheiten.

Soldaten sicherten die Karawane, die einen heutigen Marktwert von ca. 30 Millionen Euro transportierte

​Der Startpunkt unserer Reise liegt also genau hier, am Fuße des Turms der Kathedrale von Panama Viejo. Hier belud man bis zu dreihundert Maultiere mit jeweils 100 kg Gold und Silber. Treiber führten zwei bis drei Tiere. Soldaten sicherten die Karawane, die einen heutigen Marktwert von ca. 30 Millionen Euro transportierte.

Das urbane Panama City hat die Überbleibsel des Camino Real längst verschluckt. Daher fahren wir mit dem Bus zum Alajuelasee und besteigen dort ein Boot. Und wo ist der Camino? „Der liegt hier größtenteils unter Wasser. 1935 wurde der Alajuelasee als 50 Quadratkilometer großes Wasserreservoir für den Panamakanal und zur Stromerzeugung angelegt“, erklärt Christian.

Nur sehr wenige lichte Stellen des dichten Dschungels des Camino Reals in Panama erlauben einen Blick auf fast immer menschenleere Landschaft. Hier das Nordufer des Alajuelasees; links im Bild schlängelt sich der Fluss Boquerón.

Ein Dorf als Tor zur Wildnis

Wir legen am Ostufer des Alajuelasees an. Nur wenige Meter vom Ufer entfernt heben sich hellbraune Steine deutlich vom Untergrund ab. „Das sind die Überreste vom Camino Real“, erklärt Christian, „hier war er bis zu drei Meter breit. Die Randsteine sind noch gut zu erkennen.“ Dann kramt er in seiner Hosentasche und zeigt uns auf seiner Handfläche Nägel, Sporne und Fragmente von Hufeisen. „Die habe ich alle hier in der Nähe gefunden.“

Ok, und warum wurde ein Steinpfad angelegt? Christian erklärt weiter: „Ohne Steine wären die Maultiere im Morast versunken oder ständig aus- und abgerutscht. Ab morgen, im Regenwald dann, versteht ihr, was ich meine. Jetzt geht’s zum Nachtlager.“

Die Rotschnabel-Pfeifgänse haben es mir besonders angetan

Langsam fährt das Boot einen Seitenarm des Sees entlang. Schilf, Wasserlilien und andere Seepflanzen rücken näher. Wir scheuchen unzählige Seevögel auf, meine Kamera hat viel zu tun, um Fischadler, Silberreiher, Fledermausfalken, Cocoireiher, Sonnenrallen, Schmuckreiher und Gelbkopfkarakaras einzufangen. Oder es zumindest zu versuchen.

Sie alle suchen im flachen Wasser nach Fischen, Fröschen, Eidechsen, Regenwürmern, Schnecken, Insekten, Krebstieren oder kleinen Wirbellosen. Die Rotschnabel-Pfeifgänse haben es mir mit ihren karminroten Schnäbeln und weißen Augenringen besonders angetan. Bestimmt liegt es auch daran, dass sie mir ein, wie ich finde, gelungenes Foto geschenkt haben.

Nicht so viel Glück hatte ich mit den Rotstirn-Blatthühnchen, die mit ihren dünnen Beinen, außergewöhnlich langen Zehen, schmalen Körpern, weißen Flügelspitzen, roten Köpfen und gelb leuchtenden Schnäbeln wie riesige Fluginsekten aussehen.

Rotschnabel-Pfeifgänse auf dem Alajuala-See. Männchen und Weibchen sind äußerlich nicht zu unterscheiden.

Der Seitenarm wird schmaler, wir passieren einen jungen Krabbenreiher, der vom Boot eines Dorfbewohners nach Futter späht. Auf einer Anhöhe werden Hütten sichtbar. „Quebrada Ancha, ein letztes Stück Zivilisation, bevor wir endgültig in den Dschungel eintauchen“, kommentiert Christian ein wenig dramatisch.

Quebrada Ancha ist ein positives Beispiel für nachhaltigen Gemeindetourismus. Die Bewohner setzen sich intensiv für die Erhaltung und Wiederbelebung ihres kulturellen Erbes ein. Dazu zählt unter anderem die Instandhaltung von 3 Kilometern des Wanderweges und die Bewirtschaftung von Gästen wie uns. Nach einem kurzen Dorfrundgang beziehen wir unsere Zelte und starten dann die Wanderung auf dem Camino Real.

„Chrrt … Chip-Chip“, ein Rostschwingen-Maskentyrann singt von seiner Sitzwarte über uns

Erste Schritte auf dem Camino

Der Weg ist in erstaunlich gutem Zustand, breit, trocken, etwas hügelig. „Chrrt … Chip-Chip“, ein Rostschwingen-Maskentyrann singt von seiner Sitzwarte über uns. Wir passieren einen Baum mit einer imposanten, gut einen Meter langen Traube rotbrauner Früchte: Eine Königspalme. „Sie wurde erstmals von Alexander von Humboldt beschrieben,“ erklärt Christian, „aus diesen Früchten wird Saft hergestellt und dann fermentiert. Man nutzt die Königspalme auch zur Holzgewinnung, die Blätter zum Dachdecken. Aber am häufigsten findet sie als Zierpflanze Verwendung.“

Molinar Torribio kennt den Camino Real wie kaum ein anderer. Rund 35 Touren hat er bereits geführt oder begleitet.

Es gibt noch mehr zu lernen. Wir erfahren Details über Würgefeigen, Wilde Cashewbäume und Nance, einen Baum, dessen 2 bis 3 Zentimeter große Früchte ein blumiges, fruchtiges Aroma verströmen. Wir kosten davon und schmecken eine leichte Käsenote.

Plötzlich sausen Scharlacharas wie rote Blitze lärmend an uns vorbei. „Wahrscheinlich ein Pärchen auf Futtersuche“, mutmaßt Alex, „Sie leben monogam und bleiben ein Leben lang zusammen. Ihr Schlafbaum kann bis zu 10 Kilometer von hier entfernt sein.“ Etwas später passieren wir noch einen seltsamen Baum mit einigen etwa 40 Zentimeter langen, hellgrünen Früchten. Christian ergreift eine davon und sagt: „Weil sie so aussehen, heißt der Baum Kerzenbaum. Die Früchte sind roh essbar und können auch gekocht werden.“

Wir treten aus dem Wald in eine Lichtung, die direkt am Alajuelasee liegt. Ein Boot bringt uns zurück ins Dorf.

In der Ferne grunzen Brüllaffen

Auf in den Regenwald

3:30 Uhr. In der Ferne grunzen Brüllaffen, im Dorf schmettern Hähne erste Morgengrüße. Nach Sonnenaufgang fahren wir mit dem Boot zur Nordspitze des Sees, um dort die gestrige Route wieder aufzunehmen. Ein elegant watender Blaureiher lässt sich von uns nicht stören, auch nicht das Zwergsultanshuhn, das mit leuchtend ultramarinblauem Gefieder, rotem Schnabel mit gelber Spitze und hellblauem Stirnschild ein bisschen anzugeben scheint.

In über zwanzig Expeditionen gelang es Christian Strassig, den Verlauf des Camino Reals nahezu vollständig von der Pazifik- bis zur Atlantikküste zu rekonstruieren.

Christian setzt uns ab und kehrt mit dem Boot zurück, um uns in ein paar Tagen wieder in Portobelo in Empfang zu nehmen. Nach wenigen Minuten entdeckt Alex schon einen Goldkehltukan hoch oben im Geäst eines Baumes. Dann verzaubert uns ein riesiger Caligo-Schmetterling mit seinen Tarnaugen, die jetzt, bei geschlossenen Flügeln, auf den Unterseiten besonders gut zu erkennen sind.

Ein letztes Mal erhaschen wir einen weiten Blick auf den Alajuelasee mit der Einmündung des Flusses Boquerón, den wir später mehrere Male durchwaten werden. Dann wird es dunkel: der Regenwald verschluckt uns. Nach kurzer Zeit auf rutschigen Pfaden, steilen Hängen und in wuchernden Flusstälern bei konstant hoher Luftfeuchtigkeit ist allen klar: diese Expedition erfordert Willensstärke und Durchhaltevermögen. Etwa alle 90 Minuten wringe ich das vollgesogene Handtuch aus, das um meinen Hals hängt.

Es ist ein Geoffroy-Perückenaffe

Irvin, der Sohn Molinars, entdeckt etwas hoch oben in einem Baum. Es ist ein Geoffroy-Perückenaffe. Sein Rumpf ist etwa 30 Zentimeter lang, sein Schwanz mit 40 Zentimetern deutlich länger. An seinen Fingern und Zehen befinden sich Krallen statt Nägeln, was ihm ermöglicht, besser zu greifen und zu klettern.

Gegen Mittag erreichen wir eine Lichtung, die ein letztes, vollständig intaktes Stück des Camino freigibt. Dicht an dicht liegen die klobigen Pflastersteine aneinander, begrenzt durch größere, höhere Randsteine. Alex kommentiert: „Dieses Wegestück befindet sich auf Privatbesitz. Wir können nur hoffen, dass die lokalen Farmer, die Campesinos, den Weg nicht abtragen, um die Fläche für Viehzucht zu nutzen.“

Ein Geoffroy-Perückenaffe: gerade einmal 30 Zentimeter groß, mit einem bis zu 40 Zentimeter langen Schwanz und einem Gewicht von etwa 500 Gramm.

Eine halbe Stunde später machen wir Rast auf einem Hügel, vor einer Finca. Sie gehört einem Campesino wie aus dem Bilderbuch: Genaro Hernandez, 84 Jahre alt. Er lebt seit den frühen Sechzigerjahren hier im Chagres-Nationalpark. Von seinem Pferd schaut er neugierig und ein wenig belustigt auf uns schwitzende Wanderer herab. „Alles Grüne bis zum Horizont gehört mir,“ sagt er nicht ohne Stolz, „sonst kann ich nichts!“, lacht er. Das ist stark untertrieben. Etwa 100 Kühe nennt er sein Eigen. Für ein Tier kann er umgerechnet bis zu 1.300 Euro erlösen.

„Aber der abgeholzte Regenwald verschwindet für immer“

Später im Regenwald, beim Rasten, sagt Alex: „Jedes Jahr sehe ich mehr Lichtungen im Nationalpark. Ich kann die Campesinos verstehen, wenn sie den Regenwald roden, um mit Viehzucht Geld zu verdienen. Aber der abgeholzte Regenwald verschwindet für immer. Das müssen wir verhindern. Daher ist Tourismus eine wichtige Alternative. Damit können die Campesinos gutes Geld verdienen, ihre Werte und Kultur erhalten und vor allem, den Regenwald.“

Unter dieser offenen Scheue schützen wir uns vor Regen, bereiten das Essen zu und befestigen Hängematten. Im Hintergrund ist schon dichter Regenwald zu erkennen.

Ohne die scharfen Augen von Alex, Molinar, Irvin und dem Träger und Begleiter Eduviges de Leon wäre ich verloren. Sie entdecken für mich den wunderschönen Schmetterling Adelpha cytherea und die winzige Spinne namens Micrathena sagittata. Die leuchtenden Farben dieses gerade mal ein Zentimeter großen Tieres helfen vermutlich, Beute anzulocken, während die Stacheln am Hinterleib der Verteidigung dienen.

Und sie sichten den Schmetterling Arawacus togarna, einen Meister der Täuschung. Schwarze Haarschwänzchen und Augenflecken auf seinen Hinterflügeln wirken wie ein falscher Kopf. Potenzielle Angreifer attackieren diese getarnte Seite und verletzen möglicherweise nur die Flügel, statt den Schmetterling zu töten.

Nach weit über acht Stunden Nettowanderzeit erreichen wir unser Nachtlager

Dann endlich, nach weit über acht Stunden Nettowanderzeit, erreichen wir unser Nachtlager: Eine Ackerfläche als Zeltplatz und eine offene Scheune mit einfacher Kochstelle. In der Nähe fließt der glasklare Boquerón. Alle acht Wandergäste springen hinein.

Nach mehr als acht Stunden Wanderung auf dem Camino Real bei etwa dreißig Grad erreichen wir unser Nachtlager. In der Nähe fließt der Boquerón, in dem wir uns abkühlen.

Im Netz der Seidenspinne

Das Frühstück überrascht: Käse, Wurst, Butter, Schwarzbrot! Alex verzieht das Gesicht: „Wie könnt ihr das essen? Es schmeckt wie verrottetes Holz.“

Nach einer Stunde Wanderung führt der Weg über karminroten Boden. Alex erklärt: „Das ist Sand von Blattschneiderameisen. Sie tragen ihn aus ihren Bauten, die tief und verzweigt sind und bis zu zwei Millionen Ameisen beherbergen.“

Immer wieder gerate ich in Spinnennetze, einmal in ein besonders klebriges. „Das war wohl von einer Goldenen Seidenspinne“, vermutet Alex. „Ihre Netze können zwei Meter Durchmesser erreichen. Die Seide ist stabiler als Nylon. Manchmal verfangen sich Kolibris und Jungvögel darin.“

Er fordert Schweiß, Kraft, Ausdauer

Klebrig ist auch die Kleidung an unseren Körpern. Jeder geht schweigend und schwitzend, fokussiert auf den nächsten Schritt. Das Rauschen des Flusses begleitet uns, ergänzt durch Zirpen, Quietschen, Knacken, Surren, Vogelpiepsen, Zikadensirren, Brüllaffengrunzen. Der dichte Primärregenwald ist einzigartig. Er fordert Schweiß, Kraft, Ausdauer. Ohne sie kein Erlebnis, keine Tiefe, kein Abenteuer. Maultiertreiber und Soldaten nahmen über Jahrhunderte die gleiche Naturgewalt wahr, hörten das gleiche Klangspektrum.

Heute sind kaum noch Spuren des Camino im Regenwald zu finden. Die Steine sind abgerutscht, überwachsen, verschüttet. Auch das ist eine Erfahrung: Alles von Menschen Geschaffene ist hier vergänglich.

Eisengegenstände, die zwischen dem Kopfsteinpflaster des Camino Real gefunden wurden: Fragmente von Hufeisen und Nägeln (Foto von Christian Strassnig).

In den Kieselsteinen am Flussufer entdeckt Eduviges einen Helmbasilisk. Wir nähern uns und erkennen den knorpeligen Kamm am Hinterkopf. Das Jungtier vertraut noch seiner Tarnung, flitzt dann aber los! Auf seinen Hinterbeinen rast es über den Fluss, ein faszinierender Anblick. Seine großen Hinterfüße haben Zehen mit Hautlappen, die beim Laufen ausklappen und die Oberfläche vergrößern. Sein leichter Körper und die kraftvollen Hinterbeine erzeugen genug Auftrieb, um nicht einzusinken.

Alex entdeckt einen weiteren Tarnkünstler im braunen Blattwerk

Eine Stunde später hören wir Donnergrollen. „Bitte keinen Regen“, hoffe ich. Zum Glück bleibt es trocken. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie sich der Weg bei Starkregen in eine Schlammwüste verwandelt. Dann höre ich ein hackendes Klopfen. Ein Schläfenfleckspecht sucht in der Rinde eines Baumes nach Ameisen, Käfern oder Larven. Minuten später sehe ich einen passiven Kollegen: einen Plattschnabelmotmot. Der sitzt regungslos im Baum und wartet auf vorbeischwirrende Insekten.

Alex entdeckt einen weiteren Tarnkünstler im braunen Blattwerk. Ohne seine Hilfe hätte ich ihn nicht erkannt. Es ist ein Orophus Tessellatus, eine Heuschreckenart, die im Englischen als False Leaf Katydid, Falsche Blattschrecke, bekannt ist.

Im Englischen nennt man sie „False Leaf Katydid“ (Orophus tesselatus), was auf ihr blattähnliches Aussehen hinweist. Ein deutscher Name existiert nicht; man könnte sie als „Falsche Blattschrecke“ bezeichnen.

Alex ist auch nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu bremsen. Mit Taschenlampe sucht er nahe unseres Nachtlagers nach Amphibien. Beglückt kehrt er mit zwei Exemplaren zurück: einem Bananenbaumfrosch, der in bis zu 2.400 Meter Höhe gesichtet wurde, und einem Rotaugenlaubfrosch, der uns mit seinen riesigen Augen zu hypnotisieren scheint.

Tage später starb Drake an einer Darminfektion

Ein Hafen, tausend Geschichten

Der letzte Wandertag führt entlang des Flusses Cascajal. Nach sechs Stunden erreichen wir eine Hauptstraße, wo uns ein Bus zum Endpunkt des Camino Reals bringt: die Bucht von Portobelo, von Kolumbus 1502 entdeckt. Hier nahmen spanische Schiffe die über den Camino transportierten Schätze auf und segelten sie nach Europa.

Portobelo ist ein UNESCO-Weltkulturerbe, ein geschichtsträchtiger Ort, in dessen Verteidigungsanlagen, im königlichen Zollhaus und auf seinen Plätzen man in die Vergangenheit reisen kann. Der englische Pirat Francis Drake, Namensgeber der Drake Passage, griff Portobelo wegen seiner Schätze an. Tage später starb er an einer Darminfektion und wurde vor der Küste Portobelos bestattet.

Ein Truthahngeier über Panama City. Seine Flügelspannweite kann bis zu 2 Meter betragen. In vom Menschen besiedelten Gebieten fressen sie oft totgefahrene Tiere.

Jetzt sitze ich geduscht, mit kühlem Bier, mit meinen Wandergenossen auf der Hotelterrasse. Wir blicken auf die Bucht von Portobelo. Die Wanderstrapazen verklären sich. Wir scherzen und sinnieren: Vier Tage vom Pazifik zum Atlantik, Jahrhunderte atmende Geschichte in Kolonialgebäuden, sagenhafte Silber- und Goldschätze, intakter Regenwald, faszinierende Flora und Fauna, und ja, ein bisschen an seinen eigenen Grenzen rütteln. Das kann man wirklich nur hier erleben, auf dem Camino Real.

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