Erschienen in:
Größtes Reisemagazin der Schweiz
Titelstory | 10 Seiten | Text & Fotos
Wenn Lebensträume einer Familie wahr werden – 5 Monate Sri Lanka
Blonde Locken, wackelige Beinchen und ein aufgeregtes „Daaaaaa“ mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das endlose Nass deutend – zum ersten Mal in ihrem Leben sieht unsere 16 Monate alte Tochter Smilla das Meer. Es ist fünf Uhr früh. Zwölf Stunden Nachtflug, eine Stunde im Auto und ein paar Hundert Meter Floßfahrt liegen hinter Smilla, ihrer Schwester Amelie, Annette und mir.
Die Begeisterung unserer Jüngsten wischt in einem Augenblick alle Reisestrapazen weg. In diesem Augenblick spüren wir: Angekommen. Endlich da! Langsam werden unsere Köpfe frei für das, was vor uns liegt: Fünf Monate Sri Lanka. Fünf Monate, die vieles verändern werden.
Zwei Fragen stellen sich Annette und mir: Werden wir es schaffen, die zehnjährige Amelie selbst zu unterrichten? Annette und ich haben keine Lehrerfahrung. Und wie wird Smilla auf Land und Leute reagieren? Bisher war sie nie südlicher als Stuttgart.
Anders war das vor zehn Jahren. Damals hatte die Geburt von Amelie Pläne für eine mehrmonatige Fernreise erst einmal in die Schublade befördert. Lange Flüge, Klimawechsel, Zeitverschiebung, ungewohntes Essen – all das kam für uns in den ersten Lebensjahren von Amelie nicht in Frage.
Doch nach drei Urlauben auf Madeira, Mallorca und La Palma war uns klar, dass es so nicht weiter geht: Uns fehlte die Exotik. Annette und ich hatten fremde Kulturen, andersartige Landschaften und ungewohnte Lebensweisen auf zahlreichen Fernreisen kennen und lieben gelernt. 2003 testeten wir deshalb die damals drei Jahre alte Amelie auf Südostasien-Tauglichkeit.
Gemeinsam flogen wir für vier Wochen nach Thailand, wo sich Annette bereits auskannte. Amelie bestand die Testreise – und wir wurden mutiger: Bereits der nächste Trip führte uns sechs Monate lang durch Thailand, Vietnam, Laos, Burma und Bali. 2008 kam Smilla auf die Welt.
Nur ein paar Monate später fingen wir an, mit dem Finger auf dem Globus nach einem neuen Reiseziel zu suchen. Exotisch sollte es sein, vorzugsweise Asien. Und „schaffbar“ in fünf Monaten. Dann noch bitte Strand, kulturelle Highlights, farbige Flora & Fauna – alles möglichst kinderkompatibel. Am Ende blieb Sri Lanka übrig.
Ankommen braucht Zeit. Ich erinnere mich an den Satz eines türkischen Freundes: „Die Seele reist zu Fuß“. Wir verbringen die erste Woche in einer Öko-Lodge nördlich von Colombo. Halbpension, Bungalow mit Strandzugang, ideal zur Eingewöhnung. Vor allem Amelie und Smilla bekommen viel Zeit, um die unzähligen neuen Eindrücke – fremde Menschen, Tiere, Temperaturen, Gerichte und Gerüche – zu verarbeiten.
Endlich im Traveller-Modus
Nach der ersten, „pauschalen“ Woche legen wir nun den Traveller-Modus ein. Für die erste Etappe mieten wir einen klimatisierten Kleinbus samt Fahrer. So werden wir fast alle längeren Strecken auf der Insel zurücklegen.
Wir schleppen sechs große Gepäckstücke mit uns: Trolley, Reisetasche, Fotorucksack, Kindersitz, Babytrage und eine 6kg schwere Schultasche. Größere Probleme bereiten wir auch den Tuk Tuk Fahrern, die sich angesichts der Last mit hochgezogenen Augenbrauen am Hinterkopf kratzen. Meistens verteilen wir unser Gepäck auf zwei der dreirädrigen Fahrzeuge.
Erste Etappe ist Bentota, von hier aus werden wir einige Tagesausflüge unternehmen. Im Ayubowan Resort staunen wir über Warane, die im Pool baden, kichern über die Tausendfüßler, die Smilla über die Zehen laufen und erschrecken über Fledermäuse, die bei Dunkelheit lautstark in den Palmen zetern. Smilla ist in ihrer Neugier kaum zu bremsen. Immer wieder müssen wir sie festhalten, damit sie nicht ins Meer läuft, in einen Teich springt oder mit Jagdgeheul kleinen Strandhunden oder Waranen nachstellt.
Bald nach Smillas Geburt fingen wir an, mit dem Finger auf dem Globus nach einem Reiseziel zu suchen.
Die reichhaltige Fauna macht Appetit und wir mutmaßen schon, was zum Abendessen an lokalen Genüssen aufgetischt wird. Zu unserer Verwunderung serviert man uns Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti und Rotkohl. Denn Resortchef Walter Hubacher ist geborener Schweizer. Er lebt seit etlichen Jahren auf Sri Lanka und hat gelernt, auf vieles aus seiner Heimat zu verzichten – nur auf das Essen nicht. Und so trimmte er seine Köche mit endloser Geduld auf Schweizer Küche und bewirtet seine Gäste mit Leckereien aus der Heimat.
Amelie ist nicht weniger neugierig als Smilla, aber von Natur aus vorsichtiger. In der Schildkrötenaufzuchtstation von Kosgoda ziert sie sich, die gepanzerten Meeresbewohner zu berühren. Schließlich siegt ihre Neugier, sie streichelt behutsam eine glitschige, neugeborene Meeresschildkröte, legt sie sich dann auf die Hand und trägt später sogar stolz ein dreijähriges Exemplar – groß wie ein Kaffeetablett – spazieren.
Weiter südlich, in Balapitiya, erkunden wir den Fluss Madu Ganga mit dem Boot. Direkt neben dem Anleger aalen sich bis zu drei Meter lange, sehr grimmig dreinschauende Warane. Amelie zählt 21 Exemplare.
Auf der halbtägigen Flussfahrt bestaunen wir zahllose farbenprächtige Vogelarten, darunter viele Eisvögel, denen wir uns bis auf wenige Meter nähern können. Auf einer der Flussinseln beobachten wir, wie ein Bauer Äste vom Zimtbaum schneidet, die Rinde löst und diese schließlich zum Trocknen auslegt. Angeregt vom herrlichen Geruch grapscht Smilla sich in einem unbeobachteten Moment eine Zimtstange. Sie will sie sich in den Mund stopfen; Annette kann sie gerade noch daran hindern.
Anschließend besuchen wir ein kleines Inselkloster, in dem fünf Mönche und Novizen leben. Unbeeindruckt wackelt Smilla durch das Kloster und, angelockt vom Essensgeruch, landet sie schließlich im Speisesaal. Sie tippt energisch auf den Esstisch und fordert lautstark brabbelnd eine Portion. Die anwesenden Novizen kichern verlegen. Wir locken Smilla mit ein paar Keksen wieder aus der Küche und hoffen, dass die Novizen ihre einzige Tagesmahlzeit ungestört einnehmen können.
Smilla und ihre übliche „Fangemeinde“. Pollonaruwa: Eine srilankische Großfamilie strömt auf uns zu und in der nächsten Viertelstunde wandert Smilla von einem Arm auf den nächsten. Zahllose Handys schießen Erinnerungsfotos. Smilla wird mit Keksen bestochen und nimmt alles sehr gelassen.
Entlang der Küste
Die folgenden zwei Wochen verbringen wir an den Traveller- und Badeorten Hikkaduwa und Unawatuna. Kaum können wir ein paar Minuten ohne Begegnungspause laufen: Immer wieder geraten die Srilanker – egal ob jung, alt, allein oder in Gruppen – bei Anblick von Amelie und Smilla in Verzückung. Sie nehmen Smilla auf den Arm, umarmen, knutschen unsere Töchter, stecken ihnen Süßigkeiten und Spielzeug zu und lassen sich mit ihnen fotografieren.
Manchmal wird Smilla der Trubel doch zuviel. Trotz Bestechung mit Süßigkeiten fängt sie an zu jammern oder bricht in Tränen aus. Wir brechen dann rasch die Zusammenkunft ab und eilen mit freundlichen Worten und Gesten davon.
Dennoch, etwas Derartiges haben wir in keinem anderen Land erlebt. Wie viel Begeisterung der Anblick eines Kindes auslösen kann! Wir sind immer wieder überrascht über die strahlenden Augen, das ansteckende Lachen und die einladenden Gesten der Sri Lanker. Wir schenken diesen Begegnungen viel Zeit und das ist etwas, was unser Sri Lanka Bild prägen wird. Wir werden uns später in Deutschland noch lange daran erinnern und davon berichten.
Mehrmals täglich passieren wir in Unawatuna den Souvenirstand von Mike, so nennt sich der alte Srilanker mit Knautschgesicht und raspelkurzen weißen Haaren. Wenn er Amelie und Smilla erblickt, ruft er „Ah, come here girls, I have a present for you!“ und behängt die beiden mit einer Kette oder einem Armband.
Mike verleiht dem lautstarken Wirbelwind Smilla den Spitznamen ‚Devil’. Amelie tauft er ‚Trouble’. Begründung: „In a few years only she will go out with a lot of boys. And then you will have a lot of … trouble! Hahaha!“.
Alle nach Galle
Ein Halbtagesausflug mit dem Tuk Tuk führt uns in das Fort von Galle, 1998 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die Befestigungsanlage, deren Ursprünge bis auf das 16. Jahrhundert zurückgehen, ragt aus einer Halbinsel nahe des Hafens heraus. Die dicken Schutzwälle des Forts trotzten sogar dem Tsunami von 2004.
Wir steuern auf eine alte Villa zu, dem Privatmuseum des arabischen Kaufmanns Gaffar. Dieser hat in über vierzig Jahren eine riesige Sammlung historischer Kulturgegenstände zusammengetragen. Ein Bruchteil seines Schatzes ließ er hier für Besucher herausputzen. Wir staunen über Keramiken, Uhren, Schmuck, Fotoapparate, Mitgifttruhen, Münzen, Anker, Bücher, Stoffe, Möbel und sogar über ein intaktes Grammophon aus den Zwanziger Jahren.
Smilla haben wir vorsichtshalber in die Kindertrage gesteckt. So bleiben ihre neugierigen Greifärmchen außerhalb der Reichweite der Preziosen. Smillas Interesse für die Dinge aus der „Erwachsenenwelt“ hält sich in Grenzen.
Meistens sind es die ganz kleinen Dinge des Alltags, die ihre Aufmerksamkeit fesseln: Auf der Terrasse unserer Holzhütte in Unawatuna spaziert eine respektable Spinne mit schwarz-gelben Beinen über ihr Spieltuch. Bewaffnet mit einem Objektivdeckel schubst sie die Spinne minutenlang vor und zurück. Oohs, Aahs und Da! kommentieren ihre Verfolgungsjagd. Neugier und Mut wachsen. Schließlich muss sie einfach der Spinne mit dem Finger auf den haarigen Rücken tippen.
Ich bin fassungslos und stehe mit offenem Mund da – nie hätte ich gewagt, das Ekelding anzufassen.
Zweite Heimat Mirissa
In Mirissa ticken die Uhren langsam. Mehr noch, wir haben den Eindruck, dass viele hier die Zeit vergessen. Dafür gibt es genug Gründe: In der halbmondförmigen Bucht kann man seine Füße in den Sand stecken und auf die See hinausschauen. Den ganzen Tag. Unterbrochen vielleicht von einem Bad, etwas Bodysurfing, Yoga oder den herrlichen Curries, die von den Einheimischen zubereitet werden.
Neuankömmlinge erkennt man daran, dass sie zum Sunsetpoint am Ende der Bucht pilgern. Ein wunderbarer Ort, um auch Schildkröten oder einfach nur die Wellen, die sich an den Felsen brechen, zu beobachten. Auf der anderen Seite der Bucht streckt sich eine palmenbewachsene Landzunge in die See. Darunter verstecken sich ein paar Gästehäuser. Aber nur eines von ihnen bietet einen grandiosen Blick auf die Bucht. In ein paar Monaten werden wir nach Mirissa zurückkehren und dort einziehen.
Nach und nach werden auch wir von der Langsamkeit Mirissas angesteckt. Genießen endlose Frühstücke und herrliche faule Tage am Strand. Fresh Fruit Juices, Pancakes, Curries. Kartenspielen, Salzwasser, Sandburgen. Wir entschleunigen, kommen „runter“.
Amelie, die zu Hause in die 4. Klasse geht, macht fleissig Aufgaben. In Kontakt mit der Schule bleibt sie per E-Mail.
Pauken unter Palmen
Am meisten hat in diesen Tagen Amelie zu tun. Fast jeden Tag sitzt sie an ihren Schulaufgaben. Amelie ist in der 4. Klasse und eine begeisterte Lernerin. Ohne Aufforderung und nach eigenem Gusto geht sie ans Werk und arbeitet emsig bis zu 2,5 Stunden an ihren Arbeitsheften. Das Curriculum für die fünf Monate haben wir mit jedem ihrer Lehrer einzeln abgesprochen.
Um Gewicht zu sparen, scannten wir zig Buchseiten, Lektionen und Diktatvorlagen. Trotzdem schleppen wir sechs Kilo Bücher, Hefte, Blocks, Vokabelkartei, Schreibkram mit uns. Manchmal schauen einheimische Kinder bei Amelie neugierig über die Schulter. Wenn Amelie dann Zeit und Lust hat, zückt sie ein Memoryspiel. Das lässt sich mit ein paar Gesten erklären und ist ein wunderbarer Zeitvertreib jenseits aller Sprachbarrieren.
Etwa alle sechs Wochen schreibt Amelie einen Deutsch-Aufsatz. Den tippt sie direkt in den Laptop und mailt ihn an Klassenkameraden und Lehrer. So bleibt sie in Kontakt mit der Schule, bekommt Feedback und hin und wieder neue Aufgaben.
Schlangenfarm
Heute geht’s mal weg vom Strand. Wir besuchen den Hof von Mister Wijayapala – Schlangenfarmer in dritter Generation. Hier wird vor allem Serum als Gegengift für Schlangenbisse gewonnen.
Mister Wijayapala hat seine Brut in einem garagenähnlichen Schuppen untergebracht. Dort stapeln sich Käfige mit unzähligen Schlangen, an den Wänden prangen Fotos und Zeitungsausschnitte, die ihn und seine Vorväter beim Schütteln diverser Präsidenten- und Ministerhände zeigen. Wir sind die einzigen Besucher und nehmen vor dem Schlangenhaus Platz.
Eine Schlange nach der anderen wird uns vor die Füße gelegt – jedes Mal weichen wir ein Stückchen zurück. Tigerpython, Nasen-Peitschennatter, Kobra. Die ungiftigen erkennen wir daran, dass Mister Wijayapala uns diese einfach um den Hals legt. Eine Schlange knotet er Annette wie ein Armband um ihr Handgelenk.
Smilla hat wie immer keine Berührungsängste und wirbelt die Reptilien umher als seien es Luftschlangen. Ein Wunder, dass sie nicht gleich hinein beisst. Amelie ist da skeptischer und hält sich zurück. Doch Mister Wijayapala drückt ihr, ohne lang zu Fragen, einfach ein Reptil in die Handflächen. Oh Schreck! Doch das Entsetzen ist kurz. Amelie lässt die Schlange behutsam durch ihre Hände gleiten. Sie findet Gefallen daran, schiebt ihre Unterlippe vor, lächelt mutig. Und ist wieder mal ein kleines Stückchen über sich hinaus gewachsen.
Ich werde Amelie noch vielen Male an dieses Erlebnis erinnern. Immer dann, wenn es gilt, die Angst zu zähmen oder ein bisschen Mut zu zeigen. „Weißt Du noch, auf der Schlangenfarm in Sri Lanka…“. Das hilft. Nicht immer, aber oft.
Smilla und Annette begutachten eine ungefährliche Nasen-Peitschennatter.
Yala
Heia Safari! Heute gehen wir mit gemietetem Jeep und Fahrer auf Streifzug durch den ältesten Naturpark Sri Lankas. Die Leopardendichte ist hier weltweit die höchste und entsprechend groß sind unsere Erwartungen. Auf den holprigen Wegen werden wir kräftig durchgeschüttelt. Krokodile! Was! Wo? Doch die scheuen Reptilien sind so weit weg, dass wir sie für Baumstämme halten.
Wäre da nicht der „Tracker boy“, ein lokaler Aufspürer, der uns hilft, Tiere zu entdecken und zu identifizieren. Nahe eines Wasserlochs beobachten wir eine Herde lautlos grasender Sambarhirsche. Im Hintergrund ziehen sich bewachsene Dünen bis zum Meer. Wunderschön. Das Funkgerät springt an, alle erschrecken. Ein Tracker boy hat nicht weit von uns einen Leoparden gesichtet. Wir geben Gas. Drei Minuten später erreichen wir die Stelle. Mühsam entdecken wir in 200 Metern Entfernung einen schlafenden Leoparden auf einem Baum.
Langsam wird es dunkel. Soll das schon alles gewesen sein? Wir fahren weiter. Plötzlich empörtes Gepruste und Posaune, Büsche bewegen sich, schwere Schritte entfernen sich. Wir haben Elefanten aufgeschreckt. Ein Stückchen weiter haben wir Glück: Nur etwa 10 Meter neben uns weilt eine kleine Herde Elefanten. Auch ein Jungtier ist dabei. Der kleine Rüsselträger scharrt mit dem Vorderhuf, tapst herum, schnüffelt mit dem Rüssel. Amelie und Smilla sind ganz fasziniert. Es ist mucksmäuschenstill im Jeep.
Nach zehn Minuten zieht sich die Herde ins Dickicht zurück. „Tschüß, kleiner Elefant“. Für Amelie war das der Höhepunkt des Tages. Für uns Eltern auch.
Ab ins Hochland
Wir verlassen die Küste und legen mit dem Van in fünf Stunden 1.000 Höhenmeter zurück. Im Zielort Ella, eingebettet in eine herrliche Berglandschaft, blicken wir bis zur 100 Kilometer entfernten Küste. In den folgenden Tagen ist Bewegung angesagt: Wanderausflüge auf die umliegenden Gipfel stehen auf dem Programm.
Am nächsten Morgen brechen wir auf zum 1.350 Meter hohen Little Adams Peak. Der Weg führt an Teeplantagen entlang, wo Tamilinnen unentwegt Teeblätter pflücken und in Bastkörben auf ihrem Rücken sammeln. Unsere Kondition ist noch nicht die beste und wir müssen ein paar Pausen einlegen. Smilla nehme ich aus der Kindertrage, an meiner Hand stapft sie vorsichtig über Gras und Stein und sammelt ihre ersten Wandererfahrungen. Auf dem Gipfel genießen wir den Ausblick auf das lang gezogene Ella-Tal und wolkenumspielte Bergkämme.
Wir bekommen Lust auf mehr. Nach den erholsamen Wochen am Strand brennen wir darauf, uns wieder „auszupowern“. Schon am nächsten Tag steigen wir auf den etwas höheren Ella Rock. Die ersten Kilometer legen wir auf alten, kaum befahrenen Bahngleisen zurück; eine gute Laufstrecke für Smilla.
Ein einheimischer Alter verrät uns eine Abkürzung auf den Gipfel. Mit der Pfeife im Mund geht er voran. Es wird steil, mein Puls schlägt im Ohr. Schweißtropfen, schwerer Atem, Schweigen. Smilla schläft. Erst oben, wird sie wieder wach – vom Geraschel der Lunchpakete. Auf einem Felsvorsprung, der nach drei Seiten spektakulär abreißt, verputzen wir unseren Proviant. Über uns schweben Adler und beobachten das Tal.
Auf dem Rückweg kommt uns eine fünfköpfige Gruppe Amerikaner entgegen. Plötzlich kreischt einer „Snake, snake, a Cobra!“. Alle bleiben stehen, suchen den Boden ab. „Where, where?“. Doch die Schlange ist längst verschwunden. Langsam beruhigen sich alle, machen einen großen Bogen um die Stelle, wo die tödliche Schlange gesichtet worden ist. Amelie ist den Tränen nahe. Wir setzen unseren Weg fort, kräftig mit den Füßen stampfend, um etwaige Reptilien zu vertreiben.
Plötzlich kreischt einer „Snake, snake, a Cobra!“ Alle bleiben stehen, suchen den Boden ab.
Vom Ende der Welt zurück ans Meer
Weiterfahrt nach Nuwara Eliya, der mit 2000 Metern am höchsten gelegenen Stadt Sri Lankas an. Die Luft ist dünn, kühl. Die Stadt wirkt so, als ob sich viktorianische Häuser in einem Schweizer Bergstädtchen verirrt haben. Das Hotelzimmer hat einen Kamin, wir nutzen ihn nicht. Das ist ein Fehler, wie wir nachts feststellen. Bei vier Grad Außentemperatur hüllen wir uns in drei Lagen Wolldecken, um uns warm zu halten.
5 Uhr. Der Wecker klingelt. Wir lassen uns auf den Horton Plains absetzen und wandern in der aufgehenden Sonne zum „World’s End“, dem schroff abfallenden Ende des Hochplateaus. 800 Meter geht es hier kerzengerade nach unten. Halb schwindelig, halb müde machen wir Rast und lassen unseren Blick in die Ferne schweifen. Smilla protestiert lautstark, darf hier aber nicht aus ihrer Trage. Die ersten Wolken ziehen unter uns auf und werden bald die Sicht in den Abgrund verhüllen.
Tsunami
Zwei Tage später hocken wir wieder am Strand, wir haben der „See“sucht nachgegeben. Genau dafür ist unsere Reise gedacht: Keine starren Routenpläne abarbeiten, sondern sich treiben lassen, in sich hineinhorchen, dem nachgehen, was in den Sinn kommt, vor der Nase liegt. Ganz ohne Kompromisse geht das nicht, wir sind zu viert. Entscheiden heißt dann oft „mit vier Köpfen denken“ wie ich es nenne. Aber bei Meer und Strand sind wir uns schnell einig.
Im Osten Sri Lankas leben viele Muslime, so auch in der Arugam Bay. Noch trauen sich wenige Touristen hierher, das Gebiet war bis vor kurzem Schauplatz des Bürgerkriegs. Schwer bewaffnete Soldaten patrouillieren am Strand.
Amelie beschäftigt seit einiger Zeit ein ganz andere Gewalt: Tsunamis. Seit dem wir ihr von der Riesenwelle von 2004 erzählt haben, fragt sie oft: „Wenn jetzt ein Tsunami käme, wären wir hier sicher?“ Überall an Sri Lankas Küste rotten Hausruinen vor sich hin. Die Bewohner sind ins Hinterland gezogen, die umliegenden Grundstücke stehen zum Verkauf.
Amelie will mehr darüber wissen und beginnt, für einen Schulaufsatz zu recherchieren. Dazu interviewt sie Raheem, den Besitzer unseres Guest Houses. Annette übersetzt. Später, beim Durchlesen der Interviewmitschrift, ergreift mich ein Schauer: Ich erfahre, dass Raheem damals fast sein Leben verloren hätte: Nach dem ersten Vorstoß des Wassers hatte Raheem alle Gäste und das Personal ins Hinterland geschickt, er blieb als einziger zurück. Er stieg auf eine Terrasse im 2. Stock seines Hotels und beobachtete, wie sich das Wasser zurückzog.
Die Bucht war wie ausgetrocknet, Fische zappelten auf dem Boden. Dann stürmte die erste, drei Meter hohe Welle auf die Bucht zu. Raheem kletterte weiter aufs Dach. Unter ihm stieg das Wasser an. Überall schrien Menschen. Eine zweite, noch höhere Welle schlug ein. Raheem begriff, dass er nicht hoch genug ist. Er musste höher, irgendwie höher! Zwei Häuser weiter, auf dem Polizeigebäude, da wäre er sicher. Er nahm allen Mut zusammen und sprang in die Fluten.
Langsam zog sich das Wasser ins Meer zurück. Würde er mitgerissen, wäre er verloren, er würde jämmerlich auf offener See krepieren! Mit aller Kraft kämpfte er gegen die erbarmungslose Strömung. Vom Dach der Polizeistation streckten sich helfende Arme nach ihm aus. Ein riesiger Sog erfasste Raheem, drückte ihn unter Wasser, schleuderte ihn herum. Er rang nach Luft, schluckte Wasser. Keine Kraft mehr, namenlose Angst übermannte ihn. Ist das das Ende?
Plötzlich wieder Luft. Er hörte Stimmen. Hände zogen an seinem T-Shirt und der Hose. Tatsächlich, Raheem wurde von einem Nachbarn, der an der äußersten Dachecke des Polizeigebäudes hockte, gerade noch erfasst. Das hat ihm das Leben gerettet. Und ihn verändert. Heute leistet Raheem viel Hilfe in seinem Dorf und denkt oft daran, dass er noch lebt. “Es ist ein Geschenk und ich bin sehr dankbar dafür.“ spricht er, presst die Lippen zusammen und nickt.
Wir sind dankbar, dass wir Raheems Geschichte erfahren durften. Es ist eine dieser Geschichten, die man nie vergisst. Die immer wieder hervorgekramt werden: „Weißt Du noch, damals bei Raheem …“. Es ist wunderbar, dass Amelie das miterlebt hat. Wieder ist unsere Familienchronik um ein Stückchen gewachsen.
Nach dem 2009 beendeten Bürgerkrieg wurden diese Frauen und ihre Familien in einem Flüchtlingsdorf der GIZ in Obhut genommen. In guten Monaten schaffen sie es, etwa 100 Rupien zu sparen. Das sind umgerechnet 1,50 Euro. Amelie mag das kaum glauben: Das ist ein Bruchteil ihres monatlichen Taschengelds.
Amelies Geburtstag und ein besonderer Gratulant
Amelies 10. Geburtstag fällt auf einen Weiterreisetag. Dennoch beginnen wir den Tag mit einem ausgiebigen Frühstück im Monty’s Hotel – der besten Adresse vor Ort. Wir selber wohnen in einem billigen Guest House, Sparen muss sein.
Zu unserer Überraschung ist unser Tisch im Monty’s liebevoll mit Blumen, Palmenblättern und Luftballons dekoriert. In riesigen Lettern steht „Happy Birthday“ mit Reiskörnern geschrieben auf der Tischdecke. Noch bevor wir zu Ende gestaunt haben, erklingt eben dieses Lied aus den Mündern der Restaurantbelegschaft. Eine Bedienung platziert mit breitem Grinsen eine grellrosa Geburtstagstorte vor Amelies Nase.
Wow! Am Vorabend habe ich auf der Straße zufällig den Hotelmanager kennen gelernt und ihn um eine kleine Aufmerksamkeit für das Frühstück gebeten. Er hat es sich nicht nehmen lassen, gleich etwas Großes daraus zu machen.
Nach vielen Dankesworten, geschüttelten Händen und einem großzügigen Obolus für die Belegschaft ziehen wir weiter nach Batticaloa. Dort im Hotel angekommen, lege ich mich mit Smilla über Mittag schlafen. Amelies schreibt in ihr Tagebuch: „Als Mama ein Lime Soda bestellt hat, kam ein Mann und hat gefragt, ob ich aus Deutschland komme. Dann habe ich gesagt „ja“.
Am Abend hat der Mann Papa zum Weintrinken eingeladen. Dann haben sie gequatscht. Auf Deutsch, weil Jens der Botschafter von Deutschland in Sri Lanka ist. Und als er dann gehört hat, dass ich heute Geburtstag habe, habe ich ein Käppi, einen Schlüsselanhänger und sowas, was man ans T-Shirt macht, bekommen“.
Botschafter Jens Plötner lädt Amelie und mich ein, ihn beim Besuch eines GTZ-Projekts (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit) zu begleiten. Dabei geht es um die Wiederansiedlung und Ausbildung von weiblichen Bürgerkriegsflüchtlingen, vorwiegend Tamilinnen. Einige der Frauen mussten aufgrund des Bürgerkrieges zehnmal flüchten und sich immer wieder neu ansiedeln.
Ein großes Problem ist die Wiedergeltendmachung von Landeigentum: Nach Ende des Krieges im Mai 2009 sind viele in ihre Heimat zurückgekehrt, haben aber dort ihr Land besetzt vorgefunden. Diesen Menschen stellt die GTZ ein Stück Land als Wohn- und Nutzfläche zur Verfügung und betreibt eine Erwachsenenschule. Botschafter Plötner nimmt sich viel Zeit: Aufmerksam lauscht er den Worten der Frauen, fragt viel nach, scherzt.
Das GTZ-Projekt trägt Früchte – im wahrsten Sinne des Wortes: Wir kosten von Bohnen und Maiskolben, die uns beim Rundgang aus den Feldern gereicht werden. Für die begünstigten Frauen ist dies ein neues Leben, wenn auch ein beschwerliches: In guten Monaten schaffen sie es, etwa 100 Rupien zu sparen, das sind umgerechnet 70 Eurocent. Amelie mag das kaum glauben. Sie lernt, dass diese Menschen nur einen Bruchteil dessen zurücklegen können, was sie monatlich als Taschengeld bekommt.
Zurück in der Steinzeit
Wir nehmen vorerst Abschied vom Meer und fahren nach Kandy, der zweitgrößten Stadt Sri Lankas. Auf dem Weg dorthin machen wir halt in Dambana. Dort leben einige hundert Veddas, Ureinwohner Sri Lankas, noch als Jäger, Sammler oder Farmer mit nur minimalen zivilisatorischen Einflüssen: Ohne Strom, ohne fließend Wasser, kaum Kontakte außerhalb der dörflichen Gemeinschaft.
Vedda-Häuptling Uruwarige Wanniya-laeto begrüßt uns im Vorhof seiner Lehmhütte. Er greift meine Hände, schüttelt sie mit ausgestrecktem Arm auf und nieder und schmettert mir ein tenoriges „Hondamai“ entgegen, das Vedda-Sammelwort für „Willkommen“, „Auf Wiedersehen“ und „Einverstanden“. Nach einem kurzen Gespräch erhalten wir seine Erlaubnis, uns im Vedda-Gebiet umzusehen. Sein Sohn und ein weiterer Vedda begleiten uns.
Am Rande eines Reisfeldes sichten wir einen hölzernen Wachturm. Aus den Gesten, Mimiken und Englisch-Bruchstücken der Veddas lernen wir, dass dies ein Elefanten-Warnturm ist. Die grauen Riesen gelten hier als extrem gefährlich. Seit Jahrhunderten hat fast jedes Zusammentreffen zwischen Vedda und Elefant den Tod des einen oder anderen zur Folge. Eine regelrechte Erbfeindschaft.
Wir schreiten vorsichtig durch dichten Laubwald. Immer wieder müssen die Männer warten, wir können ihrem raschen Schritt nicht folgen. Am Ufer eines Baches entdeckt einer der Veddas etwas Beunruhigendes im Sand: Elefantenspuren. Obwohl es schon eine Weile her ist, als der Elefant das Wasser durchkreuzt hat, schlagen wir jetzt sicherheitshalber einen anderen Weg ein.
In der Hütte von Guna Bandiya frage ich die Veddas nach Dingen außerhalb ihres Lebensraumes: Barak Obama, George W. Bush, 11. September 2001, Gandhi, Adolf Hitler. Außer „Bush“ kennen sie nichts davon. Ich frage weiter: Zweiter Weltkrieg? Der 75jährige Kiri Bandiya murmelt „Das muss zur Zeit der Engländer gewesen sein“. Internet? Vijaiatho, 48 Jahre, antwortet „Das gibt es in Mahiyangana.“ Er deutet mit wackelndem Zeigefinger in Richtung des 15 Kilometer entfernten Ortes.
Kein Vedda hat je das Meer gesehen, niemand fragt uns etwas. Veddas interessieren sich für kaum etwas außerhalb ihres Habitats. Es ist nicht wichtig für sie. Warum auch? Sie haben hier alles, was sie zum Leben brauchen. Seit Jahrhunderten. Warum etwas anderes? Warum immer mehr?
Diese Fragen nehmen wir mit als Souvenir und packen sie in unser seelisches Reisegepäck. Manchmal kramen wir sie wieder hervor. Meistens dann, wenn sich einer von uns in etwas verguckt hat und es sich sehr für sich wünscht. Ameisenbisse und Mückenstiche nehmen wir auch noch mit – das einzige, was unseren Besuch bei den Veddas etwas eintrübt.
Pinnawala, Elefantenwaisenhaus: Über 60 große und kleine Dickhäuter baden jeden Tag im Fluss, ein einmaliges Spektakel für Amelie und Smilla.
Kandy – kein Zuckerschlecken
Kandy ist mit über 160.000 Einwohnern die zweigrößte Stadt Sri Lankas. Es geht indisch zu: Autos quälen sich durch die Straßen, Händler bieten Spielzeug und Kleidung feil, dazwischen Bäckereien, Imbisse. Wohlgeruch und Gestank im ständigen Disput. Es ist heiß, voll, bunt, laut, stickig, geschäftig. Amelie und Smilla finden den Trubel toll, sie gucken, schnüffeln und grapschen. Nach den ruhigen Wochen am Meer gönnen wir ihnen diesen „Freizeitpark der Sinne“. Annette und mir ist das zu viel, wir sind genervt. Erst weit außerhalb der Innenstadt finden wir ein ruhiges Guest House nach unserem Geschmack.
Eine Stunde Fahrt westlich von Kandy befindet sich das Elefanten-Waisenhaus von Pinnawala. Knapp 70 Dickhäuter leben dort, die meisten sind Opfer eines alten Konfliktes mit der Landbevölkerung. Bauern dezimieren den Lebensraum der Elefanten durch aggressive Landgewinnung, die grauen Riesen verwüsten im Gegenzug Felder oder gar Häuser der Bauern. Nicht wenige bezahlen das mit ihrem Leben. Elternlose Jungtiere werden ins Waisenhaus gebracht, später wieder ausgewildert oder als Arbeitselefant ausgebildet.
Höhepunkt unseres Besuches ist das morgendliche Elefanten-Bad im Fluss. Wir nehmen Platz in einem der Restaurants, die in exponierter Lage direkt am Ufer liegen. Erwartungsvolles Schnattern von Touristengruppen erfüllt die Luft, wird lauter. In gleichem Maße verschlechtert sich meine Laune. Doch dann wird alles anders: Es rumpelt, staubt, die Elefanten kommen!
Eine tonnenschwere Prozession von Dickhäutern zieht an uns vorbei und stürzt sich in die Fluten. Ein paar Tiere trödeln und schnuppern mit ihren Rüsseln an Touristen, die kreischend ausweichen. Amelie zählt 46 Elefanten.
Smilla gibt keinen Mucks von sich, krallt sich ans Geländer und kriegt vor lauter Staunen ihren Mund nicht zu. Die Elefanten plantschen lustvoll, prusten mit ihrem Rüssel das Wasser in die Luft, legen ihren Rüssel bei anderen auf den Schulter als würden sie sagen wollen: „Junge, das wird schon wieder.“
Ein kleiner Elefant verlässt das kühlende Nass und wagt sich neugierig an die Zuschauer heran. Hungrig ist er und bekommt von einem Elefantenhüter, Mahout genannt, ein paar Bananen gereicht. Schnell sind die vertilgt und gierig schlingert der kleine Rüssel nach mehr. Der Mahout winkt uns heran und drückt Annette und Amelie ein paar Bananen in die Hand. Mit Smilla auf ihrem Arm gelingt es Annette, dem kleinen Dickhäuter die Bananen einzeln zu verabreichen.
Nach einigen Anläufen schafft es auch Amelie. Und sie traut sich auch, den Rüssel des kleinen Draufgängers zu befühlen. Unsere Mädchen sind hellauf begeistert und genießen die zwei Stunden Elefanten-Badezeit bis zur letzten Minute.
Mit Amelie auf den Adam’s Peak
Von Kandy reisen wir weiter an den Fuß des wichtigsten Berges Sri Lankas, den 2243 Meter hohen Adam’s Peak. Der aus dem Paradies vertriebene Adam soll auf dem heiligen Berg gewesen sein, ebenso Buddha und Shiva. Darum wird der Berg von Christen, Buddhisten und Hindus verehrt und bepilgert. Nun will auch ich nach oben.
Am Abend vor dem Aufstieg stellt sich Amelie vor mich hin und sagt: „Papa, ich komm’ mit.“ Es klingt ein bisschen so, als ob ich es ohne sie nicht schaffen würde. Ich hake ein bisschen nach und erkläre ihr, dass wir nachts aufstehen müssen und es sehr anstrengend wird. Amelie nickt. Na gut, dann soll sie mit. Früh geht es in die Federn. Nachts schreckt Amelie dreimal vorzeitig aus dem Schlaf und meckert: „Mist, wir haben den Wecker nicht gehört!“. Rasch schläft sie wieder ein. Um 1.45 Uhr stehen wir auf und starten eine Viertelstunde später unseren Marsch.
Amelie plappert in einer Tour, sie ist furchtbar aufgeregt. Nach einer halben Stunde versiegt ihr Redefluss, wir haben die Treppen erreicht. Amelie beginnt zu zählen. Zuerst ist es leicht, die Abstände zwischen den Stufen sind weit. Wir legen die ersten 800 Stufen zurück, es wird steiler.
Dann passiert es: Amelie übergibt sich. Die Aufregung war zu groß. Das war’s, denke ich und sage: „Komm, wir kehren um“. Aber ich habe Amelie unterschätzt: „Nein.“ antwortet sie, „Weiter!“ Nach einer Verschnaufpause, heißem Tee und Keksen setzen wir unseren Aufstieg fort.
Langsam, nur langsam. Ich habe Amelie genau im Blick. Sobald es ihr irgendwie schlechter gehen sollte, steigen wir ab. Amelie läuft vor mir, bestimmt das Tempo und bleibt stabil. Ein eisiger Wind bläst. Dreimal stoppen wir, um uns mit köstlich süßem Tee aufzuwärmen. Dann, nach 4.800 Stufen und 3 Stunden 15 Minuten Aufstiegszeit, sind wir oben angekommen.
Meine Besorgnis weicht und macht Platz für eine Riesenwelle Vaterstolz. Ich nehme Amelie in den Arm und lobe sie für ihre Tapferkeit und ihren Durchhaltewillen. Sie lächelt, schaut sich verschämt um. Wie Mädels in dem Alter halt so sind. Kurz nach 6 Uhr erhebt sich die Sonne über die Wolkendecke und taucht die Landschaft rings um den Adam’s Peak in ein atemberaubend zartes Licht. Schweigend genießen wir den Tagesanbruch.
Kälte und Müdigkeit kriecht in unsere Glieder, seit einer Stunde harren wir auf dem Gipfel aus. Zeit für den Abstieg. Nun machen die Knie und Waden besonders auf sich aufmerksam. Wunderbare Ausblicke auf die teils wolkenverhangene Landschaft lassen uns die Beinstrapazen für kurze Zeit vergessen. Amelies Tagebuch weiter: „Um 9 Uhr morgens sind wir im Hotel zurück.
Dort hat eine Reisegruppe aplosiert (Anm. von Malte: applaudiert), weil wir es geschafft haben. Das war das Anstrengendste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Wir frühstücken und fahren dann weiter.“
Mirissa. Frühmorgens spazieren Smilla und ich am Strand. Im Hintergrund links, blitzt eine weiße Häuserwand aus den Palmen. Dort kehren wir für ein paar Wochen ein.
Auszeit von der Auszeit
Über drei Monate sind wir nun unterwegs. Wir spüren, dass die Begeisterung für Neues schwindet. Ein Anflug sensorischer Übersättigung greift nach uns. Wir kommen in der Zeit zwischen den Reisetagen nicht mehr zur Ruhe. Heimweh hat niemand von uns, doch wir vermissen etwas: Ein Zuhause-Gefühl. Wir wollen sesshaft werden. Und sind uns auch schnell einig, wo: In Mirissa.
Dort angekommen, mieten wir uns im Guest House von Jayantha ein. Nur hier hat man einen grandiosen Blick auf die gesamte Bucht. Das Meeresrauschen steigt hoch bis auf unsere Terrasse. Es übertönt alle Zivilisationsgeräusche, wird zum vertrauten Begleiter durch Tag und Nacht – unser Mirissa-Soundtrack.
Jeden Morgen springen wir ins Meer, lassen unsere Haut von der Sonne trocknen, verbringen den ganzen Tag am Strand mit buddeln, spielen, lesen, baden, dösen, essen. Wir vergessen unsere Schuhe im Zimmer, laufen nur noch barfuss. Immer mehr Zivilisationsanhängsel fallen von uns ab. Irgendwann laufe ich nur noch in Badeshorts und lasse schließlich auch mein scheinbar unverzichtbarstes, letztes „Ding“ zurück: Die Fotokamera. Wir kommen total „runter“. Genießen das Jetzt, gewinnen Kopfraum für Neues. Eine Idee reift in mir heran, wird stärker, jeden Tag.
Abschied und Neuanfang
Annette und ich erkennen: Das schönste und wichtigste in unserem Leben ist, zusammen mit unseren Kindern die Welt zu entdecken. Konsequenterweise steht das ab jetzt im Mittelpunkt unseres Lebens. Alles andere soll sich darum drehen und auf diese Idee einzahlen.
Dazu haben wir eine Vision: Einen völlig neuen Lebensstil, das „globile“ (globale und mobile) Leben, in dem man Job und Schule von jedem Ort der Welt erledigen kann, die Hälfte der Zeit auf Reisen, den Rest zu Hause in Berlin.
Eine Vision braucht Zeit, die werden wir nicht schon nächstes Jahr umsetzen können. Aber der Samen ist gepflanzt. Wir verlassen Sri Lanka genau so aufgeregt, wie wir hier vor fünf Monaten angekommen sind. Das Ende unserer Reise ist ein neuer Anfang Zuhause.
Den ersten Schritt setze ich gleich nach der Rückkehr um: Ich verlängere mein Sabbatical bis Ende des Jahres, um an unser Idee zu arbeiten.
Erfreulicherweise hat sich das Selbstunterrichten Amelies als Erfolg entpuppt: Sie liegt im Stoff weit vor ihrer Klasse und langweilt sich nun ein bisschen. Außerdem haben wir eine wichtige Entscheidung getroffen: Ende 2011 fahren wir wieder los.
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